Mittwinternacht

Bischof wurde, und er kannte Demut und Keuschheit. Angeblich war er einmal bei einem Freund in Paris, und die Frau dieses Freundes – ziemlich sexy – steigt nachts zu ihm ins Bett. Thomas rollt sich auf der anderen Seite aus dem Bett und tut so, als schliefe er. Als sie ihn am nächsten Morgen fragt, wie er geschlafen habe, sagt er, dass er eine bessere Nacht gehabt hätte, wenn er nicht vom Teufel in Versuchung geführt worden wäre.»
    Merrily dachte an Mick Hunter. Und dann dachte sie daran, wie kurz sie in ihrer Verzweiflung davor gewesen war, zu Lol ins Bett zu steigen.
    «Thomas Cantilupe», sagte Huw. «Keine Skandalgeschichten. Keine Risiken. Ein Soldat des Herrn. Was wohl Ihr Freund Hunter von ihm gehalten hätte?»
    Beide hatten auf der Überholspur Karriere gemacht, dachte Merrily. Aber das war auch fast schon die einzige Gemeinsamkeit. Vermutlich hätten sich die beiden bis aufs Blut gehasst.
    «Man muss auch bedenken, was Cantilupe für diese Stadt bewirkt hat», sagte Huw. «Zu seiner Zeit war die Kirche in dieser Region hoch verschuldet. Doch Hereford hatte nach der Heiligsprechungkeine Sorgen mehr. Die Wunder des Schreins bedeuteten Tausende von Pilgern, Krüppel in Scharen, den Ausbau der Kathedrale und sehr viel Geld. Wer zu krank war, um nach Hereford zu gehen, dessen Körperlänge wurde mit einer Schnur abgemessen, und man brachte die Schnur anstelle des Kranken an den Schrein. Ich weiß nicht, wie es funktioniert hat, aber es hat funktioniert. Sie glauben doch an Wunder, oder, Merrily? Ich wette, Hunter tut es nicht.»
    «Wer weiß? Sagen Sie, die Geschichte mit diesem Dämon – wie lange war Cantilupe da schon tot?»
    «Ungefähr acht Jahre. Und der Schrein war auf dem Höhepunkt seiner Wundertätigkeit. Wie konnte der Dämon da hereinkommen? Hat ihn einer der Pilger mitgebracht? War er schon da, und irgendwas hat ihn aktiviert?»
    «Wie einen
Schläfer
?»
    «Ganz genau. Aber Gott sei Dank hat ihn der unbekannte Kanonikus mit der Hilfe des Herrn und des Cantilupe-Schreins   … zu fassen bekommen.
Gefangen genommen
ist das richtige Wort. Nicht getötet oder ausgelöscht, aber gefangen genommen.»
    Merrily hatte einen dieser Momente, in denen man nicht genau weiß, ob man wach ist oder schläft. Mrs.   Straker, die Tante, hatte gesagt, dass Rowenna Napier in einer Phantasiewelt lebte. Aber wie sollte sie ihre eigene Welt nennen? Wohin sollte das führen?
    «Thomas Cantilupe», sagte Huw, «muss ein sehr guter Mann gewesen sein, sonst hätte es keine Wunder gegeben. Jetzt sind seine Gebeine nicht mehr da, aber sein Geist ist noch an diesem Ort. Sein Schrein ist immer noch da.» Mit einem Mal beugte sich Huw vor und verdeckte die Lampe. «Außer, wenn er   …»
    «Oh.» Merrily spürte Kälte in sich aufsteigen.
    «Verstehen Sie, was ich meine?»
    «Außer, wenn er auseinandergebaut ist», sagte sie.
    Sie dachte daran, wie Dobbs zwischen den Steinfragmentengelegen hatte, mit ausgebreiteten Armen und keuchendem Atem.
    «Ich möchte Ihnen noch etwas anderes zeigen.» Huw zog ein paar DIN-A 4-Fotokopien aus der Tasche und legte sie vor Merrily auf den Tisch.
     
    KATHEDRALE VON HEREFORD
    SCHREIN DES SANKT THOMAS CANTILUPE
    ERHALTUNGS- UND INSTANDSETZUNGSBERICHT
     
    «Wissen Sie, was passiert ist, als er starb?»
    «Sie haben seinen Körper gekocht und die Knochen vom Fleisch gelöst. Das Herz   …»
    «Gut, dann wissen Sie ja Bescheid. Also, die Knochen kamen zurück nach Hereford. Zuerst wurden sie unter einer Steinplatte in der Marienkapelle bestattet. Wussten Sie das auch?»
    «Erzählen Sie es nochmal.»
    «Das war nur eine Zwischenlösung, solange im nördlichen Querschiff das Grab angelegt wurde. Die Gebeine wurden in Gegenwart König Edwards   I. umgebettet, ich glaube, das war 1287.   Die Wunder begannen fast sofort, und es wurden auch gleich die ersten Gesuche auf Heiligsprechung eingereicht, die aber erst 1320 ausgesprochen wurde. Zu dieser Zeit bekam er einen wirklich schicken Schrein in der Marienkapelle, der, das können Sie sich ja denken, ein paar Jahrhunderte später während der Reformation zerstört wurde, als auch die restlichen Gebeine in alle vier Winde zerstreut wurden.»
    «Und welcher Schrein ist jetzt der im nördlichen Querschiff?»
    «Es scheint das erste Grabmal zu sein, anscheinend wurde es nie beschädigt. In diesem Bericht steht, einer der ersten Pilger hätte berichtet, dass ihm der Heilige erschienen sei, und zwar sei er aus dem Bronzerelief auf dem