Mittwinternacht
verglaste Eingang war hell erleuchtet, sodass man an eine riesige Laterne denken musste.
Lol bewegte sich die glatten Stufen hinunter und sah hinter den Glaswänden in acht oder zehn gewundenen Ständern aus Schmiedeeisen hohe Kerzen brennen.
Ein Leuchtsignal! Es war sicher noch aus sehr großer Entfernung zu sehen und markierte wie ein Feuer am Himmel einen flackernden Pfad zum Turm der Kathedrale.
Erschrocken blieb er wieder stehen. Hinter dem schimmernden Kerzenlicht glaubte er schattenhafte Gestalten umhergehen zu sehen. Es herrschte vollkommene Stille, nicht einmal ein Käuzchen schrie, nicht einmal der Wind strich durch die Bäume – da war nur diese bitterkalte, erbarmungslose Dunkelheit.
Lol bekam Angst.
«Beruhige dich, Robinson»
, sagte Athena White von irgendwoher. Er rannte die Erdstufen hinunter bis zur Natursteinmauer der Scheune und rückte langsam und vorsichtig zu dem verglasten Eingang vor. Das Kerzenlicht tanzte auf der gerippten Oberfläche einer langgestreckten, gefrorenen Wasserlache – die Reste der Teichgrabung, bei der Moon das keltische Schwert gefunden hatte.
Als er die Tür erreichte, bemerkte er, dass sie offen stand. Er wich zurück – die Erinnerung an die Dunkelheit, die ihn weggestoßen hatte, kam zurück – die Erinnerung an den Spalt zwischen zwei Welten.
Doch heute stand die Tür offen, und die Scheune schien ihn – aber ganz bestimmt nicht, weil ihm so kalt war – hereinzuwinken.
Merrily murmelte zu Sophie hinüber: «Was passiert jetzt?»
Der Kinderbischof und die beiden Kerzenträger aus seinem Gefolge hatten sich dem Hochaltar zugewandt. Rechts und links standen Chorknaben aufgereiht, und einen Moment lang herrschte vollkommene Stille.
Dann entfernte sich Mick Hunter mit einem Lächeln auf den Lippen, und der Chor stimmte ein Lied an, während sich der Kinderbischof weiter dem Altar näherte.
«Nachher», flüsterte Sophie, «wird uns der Kinderbischof ein Gebet vorsprechen und eine kurze Predigt halten. Er wird sagen, wie wichtig der Chor für ihn gewesen ist und solche Sachen. Aber vorher gibt es eine Art Prozession durch die Kirche, bei der sie gewöhnlich auch im nördlichen Querschiff Station machen.»
«Bei dem Schrein?»
«Ich weiß nicht genau, wie sie es dieses Mal machen wollen – vielleicht lassen sie es aus. Was tun Sie da, Merrily?»
«Das will ich mir aus der Nähe ansehen.» Sie schob sich aus der Bank. Mit der einen Hand hielt sie den Umhang zusammen, die andere umklammerte das Kreuz.
«Frieren Sie, Merrily?»
«Ja.»
«Ich auch. Ich frage mich, ob irgendetwas mit der Heizung nicht stimmt.»
Die Kerzenprozession verließ den Altarraum und wandte sich dem nördlichen Querschiff zu. Merrily hielt am Ende der Bank inne. Sie fühlte sich leicht außer Atem, als sei die Luft dünner geworden. Sie sah Sophie an. «Ist Ihnen wirklich
genauso
kalt wie mir?»
Dann hörte sie hinter sich einen gedämpften Aufschlag auf den Fliesen.
Sophie erhob sich. «Oh!»
Als Merrily sich umdrehte, sah sie eine mollige Frau in einemgrauen Kostüm halb auf dem Mittelgang liegen. Sie hatte die Hand übers Gesicht gelegt, und zwischen ihren Fingern quoll Blut hervor, das auf den Fliesen zu einer Pfütze zusammenfloss.
50
Gestade der Finsternis
In der Scheune herrschte die intime Atmosphäre einer kleinen, alten Kirche. Lol spürte die samtige Wärme des Raums, sah die langen Bienenwachskerzen, auf deren dicken Dochten die Flammen standen, und stellte sich vor, wie ihr leicht süßlicher Geruch nach oben ins Gebälk zog.
Er blieb einen Moment stehen, ließ seinen Körper von der Wärme einhüllen und nahm die Verzauberung der Scheune in sich auf, die, da war er sicher, Moon ebenfalls erfahren hatte. Er hielt den Atem an, denn die vollkommene Stille wurde von einem knackenden, rutschenden Geräusch unterbrochen – die brennenden Holzscheite im Kamin waren funkenstiebend in sich zusammengefallen, und ihr Schein hatte einen einzelnen Nagel zum Aufblitzen gebracht, der über dem Kamin in die Wand geschlagen worden war. Es war der Nagel, an dem das Foto eines lächelnden Mannes vor seinem Land Rover gehangen hatte.
Doch jetzt hing dort ein anderes Bild: Es zeigte eine langhaarige Frau in einem langen Kleid.
Die Kerzenhalter wirkten auf Lol jetzt wie erstarrte, tote Jünglinge. Zwei von ihnen umrahmten einen schwarzen, thronartigen Stuhl mit hoher Lehne. Und neben dem Stuhl – Lol hätte beinahe aufgeschrien – stand ein Priester in vollem
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