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Mittwinternacht

Mittwinternacht

Titel: Mittwinternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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Hunderte von Plätzen, an denen man nicht gesehen wurde. Aber warum sollte Jane sich solch einen Platz aussuchen?
    Merrily musterte James Lyden. Er war ein gutaussehender Junge, und offensichtlich wusste er das auch. War das vielleicht Hohn in seiner Miene? Lag da ein wissendes Lächeln auf seinem Gesicht? Aber vielleicht täuschte sie sich auch. Vielleicht war das nur James’ Vorstellung davon, was für ein Gesicht ein frommer Bischof machte.
    Und dann sah sie ein zweites Gesicht mit diesem Ausdruck   …
    Mick Hunter saß auf einem niedrigen Holzschemel unter dem riesigen Rund der Corona. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihn in all seiner bischöflichen Herrlichkeit sah. Er trug sie mit Würde, wie ein umschwärmter Filmstar in der Rolle des Erzbischofs Be cket.
«Wir alle sind Schauspieler. Die Kirche ist ein leicht angestaubtes, aber immer noch glanzvolles Kostümfest.»
Sie ließ ihren Blick über die Details wandern, mit denen er den mittelalterlichen Eindruck verstärkte: das Schwalbenschwanz-Chasuble, das erzbischöfliche Kreuz anstelle des Krummstabs; Mick würde sich nicht von einem Schuljungen die Schau stehlen lassen.
Peinlich
, würde Janes Kommentar lauten, ganz gleich, wo sie gerade war.
    Als der Choral endete, wandte der Kinderbischof der Gemeinde den Rücken zu, um vor Mick Hunter niederzuknien.
    Merrilys Finger klammerten sich fester um das Kreuz.
     
    Jane hatte sich in der kleinen Seitenkapelle versteckt, in der Riffelmuster in den Stein gehauen waren wie bei einer Klappmuschel. Sie duckte sich dorthin, wo vermutlich einst Mönche zum Beten gekniet hatten – allerdings bestimmt keine gewöhnlichen Mönche, so reich verziert wie diese Kapelle war. Die Klänge des Chorals umhüllten sie und entfalteten eine entspannende Wirkung.
    Aber sie durfte sich
auf keinen Fall
entspannen.
    Rowenna lehnte kaum drei Meter von ihr entfernt an einer Säule. Sie trug eine Jacke aus weichem Leder, einen schwarzen Rock und eine schwarze Strumpfhose.
    Wie würde sie reagieren, wenn Rowenna jetzt zu ihr in die Kapelle käme? Würde sie sich auf sie stürzen und ihr die Augen auskratzen?
    Nein, es war besser, sich ruhig zu verhalten und alles zu beobachten. Ganz gleich, was hier stattfinden sollte, Rowenna würde bestimmt eine wichtige Rolle dabei spielen. Sie war nicht einfach nur gekommen, um ihrem Freund zuzusehen – der garantiert nicht ihr Freund wäre, wenn man ihn nicht für die Rolle des Kinderbischofs ausgesucht hätte. Jane fiel wieder ein, dass Rowenna am Vortag vom
Slater’s
aus in die Kathedrale gegangen war: Sie hatte bei der Generalprobe dabei sein wollen, damit sie genau über die Abläufe Bescheid wusste.
    Diese bösartige, heuchlerische Schmarotzerschlampe! Jane glaubte nicht, dass sie schon einmal jemanden so gehasst hatte, wie sie Rowenna gerade hasste.
    Aber es war falsch, in einer Kathedrale so einen Hass zu entwickeln. Es musste falsch sein. Jane versuchte, sich von allen bösen Gedanken zu befreien, während die volltönende, samtweiche Stimme des Bischofs über die Lautsprecher auf die Gemeinde herabrieselte. Das hatte Mom mal seine Radiomoderatoren-Stimme aus der Spätsendung genannt. Sie klang so   … na ja, halt irgendwie
total
aufrichtig.
     
    «James, du wurdest ausgewählt, um das Amt des Kinderbischofs in dieser Kathedrale zu übernehmen. Wirst du immer gewissenhaft und treu die Versprechen erfüllen, die bei deiner Taufe für dich gegeben worden sind?»
    In der darauffolgenden Stille hörte Jane ganz in der Nähe einen kurzen Piepton. Es war ein so unkathedralenmäßiges Geräusch, dass sie sich eng an die Mauer der Kapelle drückte und einen Blick aus dem Torbogen in Richtung Kirchenschiff riskierte.
    Der Kinderbischof sagte mit schleppender, irgendwie desinteressierter Stimme: «Das werde ich, mit Gottes Hilfe.»
    Jane sah, wie Rowenna ein Handy in die rechte Seitentasche ihrer Lederjacke gleiten ließ.
    Mick Hunter sagte: «Der Segen des allmächtigen Gottes – des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes – sei mit dir. Amen.»
    Stille. Jane hielt den Atem an.
    Der Chor begann zu singen.
    Sie entspannte sich. Es war vorbei. James Lyden war der Kinderbischof von Hereford.
    Und es war überhaupt nichts passiert.
    Oder?
     
    Zwischen den kahlen Bäumen, unter dem kalten Mond, stand ein Rechteck aus Licht.
    Lol verharrte auf den vereisten Erdstufen. Zuerst dachte er, das Licht müsse über die Leylandii-Hecke vom Bauernhaus kommen.
    Doch es kam von der Scheune.
    Der

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