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Mittwinternacht

Mittwinternacht

Titel: Mittwinternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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darüber nachzudenken, was eben passiert war. Er weigerte sich zu glauben, dass diese lächelnde Anna, hinter der friedlich die Kerzen in dem verglasten Eingang leuchteten, das Bild Merrilys in seinem Kopf hatte auftauchen lassen. «Bei Ihnen geht es immer nur um Besessenheit, oder? Liebe bedeutet für Sie gar nichts.»
    Mit einem Mal standen zwei helle Lichtkreise in der Luft.
    «Liebe», sagte Tim Purefoy, «ist die beschönigende Lüge, mit der wir gewöhnlich unsere Begierde rechtfertigen. Und der dürftige Begriff, den die christliche Theologie einsetzt, um Schwäche und Sentimentalität zu adeln.»
    Die beiden Purefoys blickten Lol in heiterer Gelassenheit an, als die hellen Lichtkreise explodierten und sich Lols Ohren mit tosendem Gedröhn füllten, bevor alles um ihn herum weiß wurde.
     
    Ein Schatten fiel über Merrily, als sie mit dem Kreuz in den Händen auf den Altar zuging.
    Der alte Priester stand im Mittelgang. Er trug eine fleckige schwarze Soutane, und er wirkte sehr krank, beinahe totenblass. Merrily hatte keine Ahnung, woher er plötzlich aufgetaucht war – doch warum, das wusste sie genau. Er sah ihr direkt in die Augen. Seine Augen erinnerten sie an Kristalle in einer ausgewaschenen Klippenwand. In seinem Blick stand keine Entschuldigung.
    Er streckte eine zerfurchte Hand aus.
    Jesus Christus war der erste Exorzist
– Buchstaben auf einem wei ßen Blatt.
    Merrily nickte.
    Sie legte Thomas Dobbs das Kreuz in die Hand und trat einen Schritt zurück.
    Der Kinderbischof ließ seine Notizen auf den Boden flattern. Er hielt seinen Krummstab wie einen Speer in der Hand. Seine beiden Kerzenträger waren verschwunden, doch Mick Hunter stand immer noch ein paar Schritte hinter ihm. Merrily sah, wie sich wechselnde Empfindungen in der Miene des Jungen spiegelten. Sie dachte an die Päpste Francis Bacons.
    Sie dachte, dass James’ Gesicht in diesem Moment nicht sein eigenes war.
    In der Kathedrale herrschte angespannte Stille.
    Thomas Dobbs blieb unter dem gezackten Heiligenscheinder Corona einige Schritte vor dem Jungen stehen. Als er anfing zu sprechen, war seine Stimme schleppend und brüchig, und die Worte polterten aus ihm heraus, unaufhaltsam, wie bei einem Bergrutsch.
    «IM NAMEN DES   … DES LEBENDIGEN GOTTES, ICH BEFEHLE DICH   … ICH BEFEHLE DICH
HINAUS
!
    IM   … NAMEN DES   … ALLMÄCHTIGEN SCHÖPFERS   … IM NAMEN SEINES SOHNES JE   … JESUS CHRISTUS   … ICH BEFEHLE DICH
HINAUS

    ICH BEFEHLE DICH HINAUS UND ICH   …
    VERBANNE DICH.»
    Merrily beobachtete sein Gesicht, das an einen Felsen erinnerte. Nur eine Hälfte bewegte sich. Sie konnte fast spüren, wie ihn die Kräfte verließen, wie verzweifelt er gegen seine eigene Schwäche kämpfte.
    Der Kinderbischof ließ seinen Krummstab fallen und rannte den Mittelgang hinunter. Merrily sah, wie sich Dick Lyden aus der Bank schob, um seinem Sohn nachzulaufen. Wo der Junge gestanden hatte, sah sie die verschwommene Gestalt einer schlanken Frau in einem langen Kleid, deren schwarzes, hüftlanges Haar sie umhüllte wie dunkle Schwingen. Und dann – als hätte Merrily sie weggeblinzelt – war die Frau wieder verschwunden. Dobbs biss die Zähne so fest zusammen, dass Merrily fürchtete, sie würden splittern. Er hob mühsam den Arm.
    «TEUFEL   … UNREINER GEIST!»
    Dieses Mal war seine Stimme kaum mehr als ein raues Kratzen. Dann drehte er sich um, kam stolpernd auf Merrily zu und blieb vor ihr stehen.
    Er hob die Hand.
    Sie rührte sich nicht. Sie sagte kein Wort. Es gab nichts, was sie hätte sagen können. Sie hatte keine Tradition, kein Ritual.
    Langsam senkte sie den Kopf.
    Eine Sekunde bevor er ihre Wange berührte, spürte sie die Wärme seiner Hand auf der Haut.
    Da blickte Merrily wieder auf und sah in seinen alten, wissenden Augen ein kleines Leuchten, bevor er starb.

53
Alberne Frau
    Lol sah in Anna Purefoys helle Augen. Er konnte keinen besonderen Ausdruck darin erkennen: keine Angst, kein Erschrecken. Nur vielleicht den Ansatz von Überraschung, oder bildete er sich das ein?
    In ihrem weichen blonden Haar hing Staub.
    Es war kein bisschen Blut zu sehen – Anna hatte sich einfach das Genick gebrochen. Es war Lol nicht klar, wie das passiert war, aber das war auch nicht wichtig, oder? Jedenfalls nicht im Moment.
    Er fasste sie nicht an. Er stand einfach nur auf. Seltsamerweise brannten noch sechs der zehn Kerzen, obwohl ein Teil des Heubodens heruntergebrochen war. Abgesehen von seinem eigenen Schatten regte

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