Mittwinternacht
die aktuelle Gesellschaft, Merrily. Über Existenzangst. Worüber wir ganz bestimmt
nicht
reden, sind die mittelalterlichen Vorstellungen des Kanonikus Dobbs. Und was meiner Meinung nach auch nichts bringt, ist, nur mal eben denGemeindepfarrer auf eine Tasse Kaffee und ein paar Gebete vorbeizuschicken, wie es in den meisten Fällen derzeit gehandhabt wird.»
Langsam begriff sie, was er unter dem Amt verstand. Er wollte jemanden, an dessen Bürotür groß und deutlich stand: BERATUNG FÜR SPIRITUELLE GRENZFRAGEN. Er wollte dem Amt die Geheimnistuerei nehmen.
«Ich bin froh, dass diese grässliche Bezeichnung Exorzismus gestrichen worden ist», sagte er, «obwohl ich mit ‹spirituelle Grenzfragen› auch nicht restlos glücklich bin. ‹Rettung› würde noch weniger ominös klingen, finden Sie nicht?»
Rettungsberater? Spiritueller Rettungsdienst? SRD? Sie hob ihre Tasse, um ihr Lächeln zu verstecken. Er bemerkte es nicht.
«Es würde weiterhin zu den Aufgaben des Gemeindepfarrers gehören, sich als Erster einzuschalten, wenn irgendwer denkt, er würde von einem Geist heimgesucht oder der kleine Darren wäre vom Teufel besessen oder so etwas. Aber die Öffentlichkeit soll auch wissen, dass die Kirche ein wirksames Instrumentarium besitzt, um mit solchen Problemen umzugehen, und dass es eine ganz bestimmte Person gibt, an die sie sich wenden kann. Und ich will nicht, dass diese Person so jemand wie Dobbs ist. Wir müssen sympathisch, unvoreingenommen und benutzerfreundlich rüberkommen. Haben Sie Perrys Buch zum Thema gelesen?»
«Das ist Pflichtlektüre, oder?»
«Es ist immerhin ein Anfang. Ich finde Michael Perry viel zu leichtgläubig, aber mir gefällt, wie er darauf beharrt, nicht überzureagieren. Bei dieser Aufgabe geht es vor allem um Beistand und Beratung. Es geht um eine Art spirituelles Samaritertum – es geht ums Zuhören. Ist Ihnen aufgefallen, wie selten Perry eine Teufelsaustreibung befürwortet?»
«Er vertritt die Ansicht, dass ein Großer Exorzismus nur an einem von Dämonen besessenen Menschen vorgenommen werdensollte, und auch dann erst, wenn sich verschiedene andere Verfahren als wirkungslos herausgestellt haben.»
Mick Hunter stellte seine Tasse ab. «Ich will nicht, dass mir
jemals
etwas von einem sogenannten Großen Exorzismus zu Ohren kommt. Das ist geschmacklos, überholt und garantiert unwirksam.»
Merrily blinzelte. «Sie denken also nicht, dass in der Gegenwart des wahrhaft Bösen …»
«Das Böse ist eine Krankheit», sagte der Bischof. «Tatsächlich sogar ein ganzer Fächer von Krankheiten. Wenn wir damit umgehen wollen, müssen wir die Symptome untersuchen, feststellen, um welches Leiden es sich genau handelt, und dann mit Einfühlungsvermögen und Sorgfalt für die richtige Behandlung sorgen. Der Große Exorzismus ist, ehrlich gesagt, genau die Art mittelalterlichen Brimboriums, auf das die moderne Kirche besser verzichten würde. Sind Sie in dieser Sache mit mir einer Meinung?»
Ich weiß nicht
, dachte Merrily aufsässig.
Ich weiß nicht.
«Es ist schwer …» Sie atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Mick Hunters Überschwänglichkeit konnte einen mitreißen und dann plötzlich im Regen stehenlassen. «Es ist schwer, sich eine Meinung über etwas zu bilden, mit dem man keinerlei Erfahrung hat. Ich glaube nicht, dass irgendwer …»
«Merrily …» Er legte seine Hand über ihre. «Einer meiner Fehler ist, zu schnell zu viel von anderen zu erwarten, das ist mir bewusst. Aber ich habe von meinem Vorgänger gehört, dass Sie sich als einfallsreich und belastbar erwiesen haben. Diese schreckliche Sache in Ledwardine – ich weiß, dass Sie es nicht gerne hören, wenn über Ihre Rolle in dieser Angelegenheit gesprochen wird …»
«Ganz recht.»
«Aber Sie haben dabei gezeigt, dass Sie starke Nerven haben, überlegt handeln und auf dem Teppich bleiben. Es stimmt, wir betretenhier neues Terrain, aber ich glaube, dass in fünf Jahren alle Diözesen so weit sein werden.» Er hielt inne. «Ich habe mich übrigens kurz mit Gareth über die Sache unterhalten.»
«Dem Erzdiakon?»
«Im Zuge der Neuorganisation sollten Ihnen noch vor Ende dieses Jahres zwei zusätzliche Gemeinden zugeteilt werden. Ich habe Gareth darauf hingewiesen, dass das unter den gegebenen Umständen eine viel zu große Belastung wäre.»
«Wollen Sie damit sagen, dass ich mich zwischen den spirituellen Grenzfragen und der Betreuung von zwei weiteren Gemeinden entscheiden
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