Mittwinternacht
abgekartetes Spiel, dachte sie wütend – und zugleich fürchtete sie, dass sie das, was auch immer zu tun war, nicht schaffen würde.
Zwei Metallbetten standen in dem Überwachungszimmer. Eins war leer, in dem anderen lag Mr. Denzil Joy.
Seine Augen waren zu Schlitzen zusammengepresst und bewegten sich nicht unter der schweißglänzenden, blassen Stirn. Sein Haar war schwarz, unnatürlich schwarz für einen Mann über sechzig. Ein Sterbender färbt sich noch die Haare, schoss es Merrily absurderweise durch den Kopf.
Zwei hellgrüne Schläuche kamen aus seinen Nasenlöchern und lagen bogenförmig wie ein Zeichentricklächeln auf seinen Wangen.
«Sauerstoff», erklärte Cullen flüsternd.
«Schläft er?»
«Zeitweise.»
«Kann er sprechen?»
Sie versuchte sich darüber klarzuwerden, was sie zu tun hatte, sah den Mann intensiv an und überlegte, wieso sie das Gefühl hatte, dass etwas fehlte.
Kleine Hörner oder was? Welchen Anblick erwartest du denn?
«Nur mühsam», sagte Cullen.
«Soll ich mich eine Zeitlang zu ihm setzen?»
«Ich hole Ihnen eine Bibel, ja?»
«Lassen … lassen wir das lieber fürs Erste.» Sie wusste, wie unheimlich eine Bibel im schwarzen Ledereinband auf Patienten in diesem Stadium wirken konnte, und wünschte, sie hätte ihre blau-weiße Taschenbuchausgabe mitgebracht, bei deren Anblick man nicht sofort an Finsternis und Tod denken musste. Ihr war immer noch nicht klar, was eigentlich von ihr erwartet wurde.
Neben dem Bett stand ein Plastikstuhl, und sie setzte sich. Denzil Joy trug einen weißen Krankenhauskittel; einer seiner Arme lag über der Decke. Sie legte ihre Hand auf seine und wäre beinahe zurückgezuckt. Seine Haut fühlte sich warm und feucht an, irgendwie schleimig, wie bei einem Reptil. Ein winziges, nervöses Lächeln ließ Cullens Lippen zucken.
In dem Augenblick, in dem Merrily Denzil Joy berührte, schien ein gewisser Geruch aufzusteigen. Die Art Geruch, die man beinahe sehen konnte, so aufdringlich drang er ihr in die Nase ein. Zuerst roch es nur süßlich und schwach ölig.
Dann keuchte Merrily auf und bekam den üblen Gestank in den Mund. Ihr wurde beinahe schlecht. Zu ihrer Schande musste sie aufstehen, den Raum verlassen und sich die Hand vor den Mund schlagen.
Die andere Hand, nicht die, mit der sie Denzil Joy berührt hatte.
Auf der Station brüllte ein Patient so laut «Schwester!», als wäre er ein Bauer, der seinen Schäferhund vom andern Ende des Feldes zu sich ruft.
An der Tür atmete Merrily gierig die schale Krankenhausluft ein.
«Dr. Taylor hat eine gute Beschreibung dafür gefunden.» Eileen Cullen stand mit grimmiger Miene neben der Metalllampe. «Auch wenn
er
nie in den vollen Genuss kommt, weil er ein Mann ist. Er sagte, es riecht nach einer Mischung aus Wundbrand undKatzenpisse. Das scheint mir ziemlich treffend, allerdings hatte ich nie Katzen. Entschuldigen Sie mich einen Moment.»
Sie lief mit erhobener Hand, den Zeigefinger der anderen auf den Mund gelegt, durch den Flur auf den Mann zu, der gerufen hatte. Sobald sie weg war, tauchte die mollige ältere Krankenschwester von irgendwo auf und flüsterte Merrily ins Ohr: «Ich sag Ihnen, was das ist, Hochwürden. Das ist der Geruch des Bösen.»
«Wie bitte?»
«Er kann ihn aufsteigen lassen. Sehen Sie mich nicht so an. Vielleicht passiert es auch unwillkürlich, wenn seine Temperatur steigt. Das läuft auf dasselbe hinaus. Haben Sie gespürt, wie er in Sie eingedrungen ist?»
«Was?»
«Kommen Sie, hier können wir reden.» Sie zog Merrily in einen kleinen Raum mit Waschbecken und Müllsäcken, der von einer Neonröhre erhellt wurde. Sie zog die Tür zu. Der Geruch in diesem Desinfektionsraum wirkte im Vergleich zu dem Gestank in dem Überwachungszimmer wie Geißblattduft an einem Sommerabend.
«Ich bin hart im Nehmen», sagte die Krankenschwester. «Seit dreißig Jahren im Beruf. Alles, was der Mensch an unangenehmen Absonderungen ausscheiden kann, habe ich gesehen, gerochen und berührt.»
«Das kann ich mir vorstellen.»
«Nein, können Sie nicht, junge Frau.» Die Schwester schob einen Ärmel ihres Kittels hoch. «Sie haben nicht die geringste Vorstellung. Und jetzt sehen Sie sich das an.» Um ihr Handgelenk leuchtete ein Bluterguss, als hätte sie Handschellen getragen.
«Es war so: Mr. Joy hat um eine Flasche gebeten – zum Urinieren, verstehen Sie? Und dann hat er mich zurückgerufen und gesagt, er hätte … Probleme, ihn hineinzubekommen. Na
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