Mittwinternacht
ist als Kinderbischof ausgesucht worden.» Sie sah Lol mit hochgezogenen Augenbrauen an. «Weißt du, was das heißt?»
«Sorry», sagte Lol. «Ich kenne mich mit der Kirche nicht so gut aus.»
«Das ist eine Weihnachtstradition aus dem Mittelalter. War früher fast in der gesamten Gegend üblich, wird aber heute eigentlich nur noch in Hereford gemacht. Ein Junge aus dem Knabenchor oder ein ehemaliger Chorsänger wird ausgesucht, um am Nikolaustag den Bischof auf seinem Thron zu spielen. Mit Mitra und Stab und dem ganzen Brimborium. Das Ganze ist unheimlich feierlich, aber auch ziemlich lustig.»
«Es ist sogar eine richtige Ehre», sagte Dick. «Ganz besonders für Zugezogene wie uns. Der kleine Scheißer!»
«Und jetzt sagt James natürlich, dass er ablehnen wird.» Ruth schenkte Lol Kaffee ein. «Als sie es ihm angeboten haben, war er ziemlich geschmeichelt, auch wenn er darüber gespottet hat. Aber jetzt hat er verkündet, dass es für ihn moralisch nicht vertretbar wäre, es zu machen – immerhin hat er beschlossen, Atheist zu sein …»
«Und was zum Teufel macht das für einen Unterschied?», grollte Dick. «Mindestens fünfundzwanzig Prozent der verdammten Geistlichen sind Atheisten!»
«… und deshalb würde das nicht zu seinem Persönlichkeitsprofil oder zu seiner musikalischen Ausrichtung passen.Er ist jetzt sechzehn, und mit sechzehn hat man ein unheimlich genau definiertes Profil. Wie schnell sie sich verändern! Gerade noch ein engelhafter kleiner Chorknabe, und im nächsten Jahr schon …»
«… ein unerträglicher Pubertierender», sagte Dick. «Wo ist seine Gitarre? Ich schließe sie im Schuppen ein.»
«Er hat sie mit in die Schule genommen.» Ruth versteckte ein Lächeln hinter ihrer Kaffeetasse. «Ich habe dir ja gesagt, dass er dich durchschaut.»
«Hinterhältiger kleiner Bastard.» Dick leerte seine Tasse und hustete, weil der Kaffee so stark war. «Also gut. Ich hole meine Jacke, Lol. Tut mir wahrscheinlich gut, rauszugehen und mich mit etwas Einfacherem zu befassen.»
«Moon ist einfach?»
«Na ja, du weißt schon, was ich meine. Einfach kompliziert.»
«Armer Dick», sagte Ruth, als er draußen war. «Es ist eher eine Ehre für
ihn
als für James. Ein Zeichen dafür, dass er in der Stadt wirklich akzeptiert worden ist. Das braucht er – er muss im Mittelpunkt stehen. Er ist wirklich ein grässlicher Kontrollfreak auf seine ach so liebenswürdige Art.»
Lol sagte: «Analysiert ihr Psychotherapeuten euch eigentlich
immer
gegenseitig?»
Ruth lachte.
Draußen begann es zu regnen, ein plötzlicher kalter Sturzregen.
«Wow.» Jane stand am Herd und betrachtete ihre Mutter. «Du siehst wirklich scheiße aus.»
«Danke. Hast du noch mehr Nettigkeiten auf Lager?»
Merrily hatte ihr erzählt, dass sie von der Polizei aufgehalten worden war, die wegen eines Toten im Wye ermittelte. Aber das erklärte natürlich keineswegs, warum sie scheiße aussah.
«Du brauchst ein heißes Bad», sagte Jane. «Und dann eine Runde Schlaf.»
«Ein Bad brauche ich ganz bestimmt.» Das stand außer Frage. Merrily sah dem Regen vor dem Fenster zu. Er sah schmutzig aus. Alles sah irgendwie schmutzig aus, auch noch nach zwanzig Minuten vor dem Altar.
Kratz-Kratz.
«Also?» Jane schob dicke Toastscheiben auf einen Teller. «Möchtest du über das andere reden?»
«Warum glaubst du, dass es noch etwas anderes gibt?»
«Tu mir einen Gefallen», sagte Jane.
Jane hatte schon bald nach Seans Tod verstanden, dass ihre Mutter jemanden brauchte, mit dem sie belastende Dinge teilen konnte. Manchmal verwandelte sie sich unwillkürlich in eine Art verständnisvolle jüngere Schwester – ohne ihren Sarkasmus, ohne Rechthaberei, einfach nur ein Archiv für Informationen, die später zu kleinen Erpressungen genutzt werden konnten.
«Warte mal.» Merrily sah auf. «Wie viel Uhr ist es? Der Schulbus fährt gleich ohne dich ab.»
«Ich nehme mir den Tag frei. Ich habe Migräne.»
«In diesem Fall, mein Schatz, bewältigst du die grausamen Schmerzen, die dieser Zustand mit sich bringt, mit bewunderungswürdiger Gelassenheit.»
«Ja, es ist ein ziemlich leichter Anfall. Aber er könnte schließlich schlimmer werden. Außerdem, wenn man erst mal die Unterrichtsmethoden der Lehrer kapiert hat, kann man sich jederzeit mal einen Tag freinehmen, ohne irgendwas zu verpassen.»
«Was du allerdings noch nie gemacht hast – oder?»
«Eine Pfarrerstochter muss flexibel sein. Wenn ich in die Schule
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