Mobile Röntgenstationen - Roman
sonst schadhaften Lungen gekümmert hatten. Da ist schon der Letzte. Dumpf fällt die Tür des Busses zu. Nachdem er sich noch einmal umgesehen hat, schreitet der Röntgenologe Antanas Bladžius schnell und leichtfüßig durch den Park. Es regnet. Er spannt seinen schwarzen Schirm auf und beschleunigt noch seine Schritte, denn schon gießt es wie aus Eimern. Er ist wie immer sorgfältig gekleidet und rasiert, das Oberlippenbärtchen gestutzt. Niemand schert sich darum, wo er hingeht. Niemand sieht ihn. Keiner geht ihm nach, ruft ihm zu, er möge Halt machen und sich zurückbegeben, dorthin, wo es sicher ist, in seinen Bus. Er würde ganz von selbst stehen bleiben, sich kurz umschauen und dann die Flucht ergreifen. Oder, wenn er könnte, sich in einen Fisch verwandeln und in den See springen. Aber weil er das nicht kann, zieht er nur, vom Platzregen überrascht, die Schultern ein, weiter nichts.
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In einem Zeitraum von zwölf Jahren veränderte sich die Welt, aber ich bemerkte davon nichts. Wurde ich 1958 wegen schlechter Zensuren und unpassenden Betragens gerüffelt, wegen zu schnell abgetragener Hosen und Schuhe, dann wurde ich 1968 von ganz anderen Leuten gerügt. Faulheit war der immer wiederkehrende Vorwurf, mangelndes Verantwortungsgefühl und gesellschaftliche Passivität. Meistens aber böswillige Nichtbeachtung der Direktiven der Fakultät. Nun war ich nicht der Einzige, mit dem es Probleme gab, man hätte auch mich irgendwie ertragen. Aber als sich der Militär-Lehrstuhl gegen mich erhob, in seiner ganzen Macht und Herrlichkeit, mit Oberst Wilenski an der Spitze, und ich auch hier aneckte, wurde ich wie ein Wurm in den Boden gestampft, professionell, zügig und gnadenlos. Kein Zweifel: Das Soldatspielen lag mir nicht. Weder die Taktikübungen gefielen mir noch die ognevaja podgotovka [17] . Noch verhasster war mir der dort abgehaltene Politunterricht. Der passte vielen nicht, aber meine Kommilitonen besuchten die Veranstaltungen, strengten sich an und wurden sogar gelobt. Dort rasierten sie mir mein erstes dünnes Bärtchen, woraufhin ich mich, tief beleidigt, einen ganzen Monat nicht blicken ließ. Sich als Pazifist auszugeben, das wurde nicht ernst genommen, galt sogar als gefährlich. Und ein richtiger Pazifist war ich auch gar nicht. Aus Dummheit hätte ich mich selbst für die Fremdenlegion anwerben lassen. Nur gab es die hier leider nicht. Es existierte nur die ungebetene brüderliche Hilfe, die erstmals den Ungarn gewährt wurde, zwölf Jahre später den Tschechen. Aber die Welt hatte sich dennoch ein wenig verändert: Während die Ungarn in Blut und Tränen schwammen, jammerten die Tschechen mehr über ihre von den Panzerketten ruinierten Straßen und Autobahnen und spotteten offen über die Russen – wahre slawische Brüder! Wem der Boden unter den Füßen zu heiß wurde oder wer sich sonst hinaus sehnte, der gelangte leicht in den Westen, und wenn man auch dort die Invasion verurteilte, war man doch froh, dass alles noch mal glimpflich abgelaufen war. Die Etats für Radiostationen und Propaganda wurden gehörig aufgestockt, wer dorthin gelangte, erfuhr sowohl materielle als auch moralische Satisfaktion.
In diesen zwölf Jahren hatte auch ich mich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Während der ungarischen Ereignisse war ich kaum neun, in diesem Sommer, über den ich hier ein wenig ungeordnet zu erzählen versuche, einundzwanzig. Ich wusste nicht, wohin mit meiner ganzen Energie – Sport trieb ich nur zum eigenen Vergnügen, Schach langweilte mich, Fischfang und Angeln waren mir zuwider. Nie wäre es mir eingefallen, Tauben zu züchten wie mein Freund Žekė, der sie auf dem Dachboden des Wohnheims hielt. Bücher verbreiteten nicht selten Verzweiflung, Schrecken und Unruhe, selbst gute. Ich bemühte mich, draufgängerisch zu erscheinen, sogar zynisch, aber in Wirklichkeit war ich schüchtern, reizbar, ohne musikalisches Gehör, zerstreut und entsetzlich träge. Den Besuch eines Kunststudios, wo ich sogar gelobt wurde, gab ich nach einiger Zeit wieder auf. Dann hatte ich angefangen, im Hallenbad schwimmen zu gehen, spürte aber hinterher einen solchen Hunger, dass mir jedes Mal, wenn ich im Wohnheim den Duft von Bratkartoffeln in der Nase hatte, das Wasser im Mund zusammenlief. So ließ ich auch das bleiben. Beinahe jede menschliche Tätigkeit erzeugte bei mir einen gar nicht gespielten Widerstand, erschien sinnlos, monoton und leer. Aber jung, immer jung! Der Organismus selbst regelt die
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