Mobile Röntgenstationen - Roman
wären ein weiteres Mal überfüllt gewesen. Aber allerlei Abtrünnige und Sonderlinge, Müßiggänger, Säufer, Nörgler, dazu Alte und Invaliden, die fanden sich zu allen Zeiten. Konnte es für solche Platz geben in einer kommunistischen Gesellschaft? Konnten die sich an den Kodex halten und gleichzeitig von Verwandten aus Amerika oder Israel Seife, Nähnadeln, Schokolade beziehen oder Stofffetzen für ein Kleid erbetteln? All diese hässlichen Kleinigkeiten behinderten dann auch dabei, jenes gewaltige Gebäude zu errichten. Stattdessen waren es die Künste, allen voran die bildende Kunst und die Literatur, die nicht nur eifrig bauten und zimmerten, sondern sich auch gleich noch um die Innenausstattung kümmerten. Das wurde den Schriftstellern anständig vergolten. Sofern sie Erbauer waren, versteht sich, keine Lästerer und Nörgler, kein graues Mittelmaß.
Heute ist es leicht, sich über Nikita Sergeevič· Chruščëv lustig zu machen. Um die Wahrheit zu sagen: Das tut auch niemand, es reichen die neuen Sorgen. Immer weniger sind geblieben, die sich gut an jene Epoche erinnern, obwohl es sie noch gibt! Man hat nur vergessen, dass es deftige Erbsensuppe gab in den Sanatorien und Kommunen, umsonst natürlich, dass man dort Champagner und Rotwein trank, mit dem Kahn auf einen See hinausruderte oder, ein Lied auf den Lippen, in Georgien und Ossetien alte Kriegspfade erwanderte. Ohne jedes Visum konnte man bis zum Stillen Ozean reisen, wo nicht wenige freiwillig blieben. Und welcher litauische Publizist hätte heute Zeit und Muße, ungestört die Folklore kleiner nördlicher Völkerschaften zu erforschen oder sich in Taschkent für die litauisch-usbekischen Literaturbeziehungen zu interessieren? Keiner.
Allzu sehr ereifere ich mich hier. Niemanden interessiert das mehr. Und immer ist dieser Röntgen schuld. Dieser lang gestreckte Bus im Park. Gern möchte man in das Städtchen am Seeufer zurückkehren, obwohl dort keine Lucija, kein Roter Wacholder mehr wartet. Dort drüben die Attraktion! Immer unter den Linden platziert. Die mobile Röntgenstation . Was macht’s, dass sie sich vielleicht anders nannte. Da ist dieser Bus gekommen, haben die Leute damals einander zugerufen, wieder wollen sie uns durchleuchten [16] . Wobei sie nicht die von mir in der Eile noch gar nicht erwähnte mobile Bibliothek meinten, sondern einzig die Röntgenaufnahme. Jeder, der dort gewesen war, bekam einen kleinen Zettel mit der Aufschrift: kein Tbc gefunden oder später – Fluorografie erledigt. Wenn die Statistiken jener Zeit nicht lügen und pro Jahr auf den Röntgenschirmen die Lungen von mehr als einer Millionen Einwohner besichtigt wurden, dann musste auch an abgelegenen Orten der Röntgenbus mindestens einmal in zwei Jahren vorbeigekommen sein. Woanders noch öfter. Vielleicht war es auch so. Man möchte diese Busse, wenn auch in einem fernen Sinne, mit den russischen Peredvi ž nikis, den Wandermalern, vergleichen, obwohl kaum von ihnen abgeguckt wurde. Aber das Prinzip war das gleiche: Heute hier, morgen schon irgendwo anders. In der Tat: Vagabundierende Künstler, Fotografen, Schneidermeister, Tischler, Friseure, hausierende Hengstbeschneider, Vengrytojai genannt , sie alle waren rechtmäßige und sogar gefragte Personen. Aber auch das Land durchstreifende Bettler, Räuber, Betrüger und Pferdediebe schufen die Tradition des nächtlichen Pferdeweidens. Und alles schien so miteinander verflochten, dass man feststellen konnte: Die mobile Lebensweise war für zahllose Männer und selbst Frauen die ihnen gemäße. Vielleicht lockten deshalb die Neulandfahrten, Karelien, der Hohe Norden? So wie heute, ohne darüber nachzudenken, der eine in die Emirate reist, der andere nach Deutschland. Oder sogar nach Amerika.
Wo sind eigentlich jetzt die Überreste jenes Ungetüms, das ich seinerzeit zusammen mit dem Genius in Augenschein nahm? Aus irgendeinem Grund stelle ich mir vor, dass es da einen gab, der den ausrangierten Bus zunächst in ein provisorisches Gartenhaus verwandelte und erst später, zu Geld gekommen, sich etwas Besseres hinstellte, das Stahlskelett in den Wald schleppte und dort zurückließ. Doch in der Fantasie glänzt er noch immer unter den Linden des Parks, daneben Remis und Salės grünes Zelt. In seiner Tür verschwinden, einer nach dem anderen, die Ortsansässigen, untere Nomenklatura, kleine Angestellte, Lehrer, Handwerker, Fischer, ganz gewöhnliche Menschen, die sich nicht sonderlich um ihre verräucherten oder
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