Mobile
der sie sich befand. Mein Vater hat auf ihren Tod ganz seltsam reagiert. Es schien, als sei es ihm scheißegal, dass sie sich aufgeknüpft hat, und vermutlich war es ihm auch scheißegal. Ich bin fest davon überzeugt, dass er sie bis zu seinem letzten Tag für schuldig hielt, auch wenn er es nie gesagt oder auch nur angedeutet hatte. Ich weiß, dass er sie vor dem Knast bewahrt hatte, indem er kurz vorm Eintreffen der Bullen kurzerhand die Terrassentür aufhebelte, denn seltsamer Weise war unser Kuhfuß plötzlich fort. Er hatte ihren Arsch gerettet und vermutlich nie verstanden, weshalb er es getan hat, wo er doch davon überzeugt war, dass sie ihrem eigenen Sohn etwas Grauenvolles angetan hatte. Im Gegensatz zu mir. Ich wusste, dass meine Mutter nichts mit Ulrichs Verschwinden zu tun hatte. Ich wusste es bereits, als das Haus noch voller Bullen war und mein Vater in seiner eigenen Kotze stand. Mir reichte ein Blick in sein Kinderzimmer, um zu wissen, was wirklich geschehen war.« Michael deutete auf seine leere Bierflasche. »Vom vielen Reden wird einem ja der Mund ganz trocken.«
»Ich hole Nachschub«, sagte Joachim, stand auf und ging in die Küche.
Carola sah Michael mit hartem Blick an. Er lehnte sich zurück und sagte: »Ich habe dich nie aus den Augen verloren.«
»Aha.«
»Deine Heirat, die Geburt der Kinder, der Umzug in diese Wohnung - was dich betrifft, war ich immer auf dem Laufenden.«
»Sieh an, ein Stalker. Na, das passt ja.«
Er fragte ruhig: »Geht es dir rundum gut, Carola?«
»Eigentlich ja.«
»Das eigentlich bezieht sich auf deinen kleinen Sohn?«
»Du bist b litzgescheit wie eh und je.«
»Na, vielleicht bekommen wir das ja hin. Gemeinsam. Es ist mein größter Wunsch, dass du glücklich und ohne Angst bist.«
Sie lachte verächtlich auf und schüttelte den Kopf.
»Du vertraust mir nicht, stimmt's?«
»Verwundert dich das etwa?«
»Nein, nicht im geringsten. Es war falsch, was ich damals getan habe.«
»Es war falsch, wie du es getan hast. Dass du es getan hast, war das Beste, was mir passieren konnte.«
»Wir werden es nie herausfinden.«
»Ich habe es bereits herausgefunden.«
Joachim kehrte zurück, er hatte gleich mehrere Flaschen dabei. Sein Gesicht war angespannt. Er stellte die Flaschen auf den Tisch, öffnete eine und schob sie Michael rüber. »Du auch?«, fragte er Carola.
»Nein, danke .«
Joachim setzte sich, sah Michael an und fragte: »Wieso wusstest du nach einem Blick in Ulrichs Zimmer, was tatsächlich geschehen war?«
Michael trank vom Bier, dann sagte er: »Wegen der Murmeln.«
»Welcher Murmeln?«
»Die, die wir damals bei dem Bruch haben mitgehen lassen. Ich habe die Murmeln behalten, du das Mobile.«
Joachim nickte gebannt. Er wagte kaum zu atmen.
»Ulrich spielte damals häufig mit meiner Murmelbahn, die mich schon längst nicht mehr interessierte. Er konnte gar nicht genug davon bekommen. Also schenkte ich ihm die Murmeln. Und sie haben meinen Bruder geholt. Diese beschissenen, bunten Glasmurmeln.« Joachim runzelte die Stirn. »Die Glasmurmeln? Ich verstehe nicht ... . Wie meinst du das?«
»In dem Beutel waren sechzehn kleine, bunte, beschissene Glasmurmeln gewesen, und sie waren wunderschön. An dem Tag als Ulrich verschwand, waren in seinem Kinderzimmer die Glasmurmeln zu einem Kreis zusammengefügt. Die sechzehn Murmeln lagen auf dem Teppichboden und bildeten einen Kreis. Aber es war nicht irgendein Kreis, sondern ein Kreis wie mit dem Zirkel geschlagen. Alle Murmeln hatten exakt den gleichen Abstand zueinander, alle sechzehn. In der Mitte des Kreises lag eine weitere Murmel, die siebzehnte, und sie war ebenso schön und bunt wie die sechzehn anderen.«
Michael nahm die Flasche und leerte sie mit tiefen Zügen.
»Ja ... und?«, fragte Joachim.
»Er will uns weismachen, sein Bruder sei zu einer Glasmurmel geworden«, sagte Carola spöttisch. »Glasmurmel Nummer siebzehn war kurz zuvor noch ein unschuldiges Kind namens Ulrich gewesen.«
Joachim sah Michael verwundert an. »Ehrlich?«
»Genau so ist es gewesen. Mein Bruder war verschwunden und es gab in seinem Kinderzimmer diesen Kreis mit der siebzehnten Murmel. Geradezu demonstrativ lag sie in der Mitte des Kreises, so als wolle sie sagen: Seht mal, was geschehen ist.«
»Du spinnst«, sagte Joachim, »das ist vollkommen unmöglich.«
»Unmöglich?« Michael blieb ganz ruhig. »Wer entscheidet, was möglich ist und was nicht? Du? Oder ich? Oder Carola? Oder einer von den Menschen
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