Mobile
Ganze nur mal vorstellen: Die Nachbarn sehen, wie die Mutter und der kleine Ulrich morgens in der Haustür stehen und dem Vater hinterher winken, der zur Arbeit in die Sparkasse geht. Daran, dass der Vater den ganzen folgenden Vormittag dort gewesen ist, gibt es nicht den geringsten Zweifel. Als der ältere Sohn Michael mittags von der Schule nach Hause kommt, ist sein Vater überraschenderweise da. Der Vater ist kreidebleich und das blaue Oberhemd ist durchgeschwitzt. Er registriert Michael kaum. Und dann sind da noch zwei Polizisten, alle in ihren schneidigen Uniformen. Zwei Nichtuniformierte sind auch da, eine Frau und ein Mann. Die Frau ist Psychologin und redet in einer Tour auf die Mutter ein, die auf dem Sessel sitzt und heult, obwohl sie schon längst keine Tränen mehr hat. Was ist denn hier los? , fragt Michael, und einer der Bullen sagt ohne Mitgefühl und Rücksicht: Dein Bruder ist verschwunden, und so wie es aussieht, wird er auch nicht mehr so schnell zurückkommen. In dem Moment erbricht der Vater sich. Einfach so. Er steht mitten im Wohnzimmer und kotzt. Er versucht weder es zu verhindern, noch läuft er ins Badezimmer, um wenigstens ins Klo zu kotzen. Alle Anwesenden tun so, als würden sie der Mutter glauben, die immer wieder erzählt, sie habe Ulrich nicht in den Kindergarten geschickt, weil er an jenem Tag partout nicht hingehen wollte, und gegen zehn Uhr habe sie ihn ins Bett gesteckt, weil er plötzlich so müde gewesen sei. Als sie dann später nach ihm sehen wollte, sei sein Bett leer gewesen. Und dann habe sie nach ihm gesucht, überall im Haus und in dem kleinen Garten und auch draußen auf der Straße, und immer wieder habe sie nach ihm gerufen, Ulrich, Ulrich , aber Ulrich habe nicht geantwortet, und niemand hatte Ulrich während der vorangegangenen zwei Stunden auf der Straße oder sonst wo gesehen. Dann habe sie ihren Mann angerufen und ihm gesagt, dass Ulrich spurlos verschwunden sei.«
Michael schlug das Fotoalbum auf. Gleich auf der ersten Seite war der Artikel eines lokalen Boulevardblatts. Junge (4) verschwunden - was weiß die Mutter? fragte die Überschrift. Michael schlug die nächste Seite auf. Zwei weitere Artikel. Ohne auf der Seite zu verweilen, blätterte er weiter. Weitere Artikel, doch sie wurden kürzer und kürzer. Michael schlug das Fotoalbum zu.
»Natürlich kam mein Vater sofort nach Hause, und meine Eltern haben gemeinsam Haus und Garten abgesucht. Ohne Ergebnis. Schließlich hat mein Vater die Polizei gerufen. Trotz der aufgebrochenen Terrassentür, die darauf hindeutete, dass jemand gewaltsam in das Haus eingedrungen war, hatten alle meine Mutter in Verdacht. Aber sie hat weder ein Geständnis abgelegt noch hat sie sich jemals widersprochen. Man konnte ihr nicht das Geringste beweisen, und da von der Bevölkerung kein einziger Hinweis einging, stellte man die Suche nach Ulrich irgendwann ein. Die Akte wurde geschlossen und man wird so etwas wie Gekidnappter vierjähriger Junge, vermutlich später ermordet draufgeschrieben haben.«
»Ihr seid dann kurz darauf weggezogen«, sagte Joachim behutsam.
»Ja, nur wenige Monate später. Mein Vater bat um Versetzung und sie boten ihm Frankfurt an. Wir sind in eine schöne Wohnung mitten in der Stadt gezogen, aber selbst der erhoffte Neuanfang gelang nicht. Meine Eltern verkrochen sich immer mehr in sich selbst. Sie wurden einander überdrüssig, ertrugen die Anwesendheit des anderen nicht mehr. Meine Mutter wurde immer depressiver. An den Vormittagen erledigte sie die Dinge, die eine Hausfrau so erledigt, doch ab dem Nachmittag hockte sie vor der Flimmerkiste, ganz gleich, welcher Scheiß lief, und ignorierte die Welt um sich herum. Sie stand nur auf, um zur Toilette oder irgendwann ins Bett zu gehen, während mein Vater an den meisten Abenden in dem kleinen Arbeitszimmer war und ein Buch nach dem anderen verschlang. Später hat meine Mutter sich erhängt. In der Tiefgarage, Nachbarn haben sie gefunden. Das war etwa drei Jahre, nachdem Ulrich verschwunden war, und es fiel in die Zeit, in der zumindest mein Leben wieder halbwegs normal lief.« Michael schüttelte verächtlich den Kopf. »Ich empfand nur wenig Trauer, aber dafür umso mehr Wut. Die Schlampe knüpft sich auf und lässt mich einfach im Stich. Warum?, fragte ich mich immer wieder. Wieso hatte sie aufgehört zu existieren, bloß weil Ulrich fort war? Ich war damals knapp vierzehn Jahre alt, ich brauchte sie, wenn auch in einer anderen Verfassung als die, in
Weitere Kostenlose Bücher