Mobile
draußen auf der Straße? Ich sag dir was: Jeder da draußen auf der Straße darf mir unterstellen, dass die Geschichte von Ulrich und den Murmeln ersponnen ist. Aber nicht du und Carola auch nicht. Nur weil du dir etwas nicht vorstellen kannst oder nicht vorstellen willst, bedeutet das noch längst nicht, dass es nicht möglich ist. Wenn du das Haus ohne Türen und Fenster betreten willst, dann musst du jedes dir unrealistisch erscheinende Das-gibt-es-nicht aus deinem Kopf streichen. Die angebliche Realität ist lediglich eine Interpretation des Gehirns, die eigentliche Realität existiert außerhalb des Denkens. Du musst bereit sein, dich auf alles einzulassen und in deinem Kopf alles zuzulassen.«
Joachim wischte sich langsam über das Gesicht und stieß einen tiefen Seufzer aus, dann sagte er: »Das ist schon eine ziemlich heftige Geschichte, die du eben erzählt hast.«
»Und sie ist wahr«, sagte Michael. »Bislang hatte ich über die Sache nicht gesprochen, kein Sterbenswörtchen hatte ich zu jemanden gesagt. Ich wusste damals, dass mich alle mitleidig ansehen würden, wenn ich in das Wohnzimmer zurückgehen und sagen würde: Meine Damen und Herren, geschätztes Publikum, der Fall ist gelöst: Uli ist zu einer Glasmurmel geworden . Vermutlich hätte mir mein Vater sogar noch eine saftige Ohrfeige verpasst. Also habe ich schön meine Klappe gehalten. Später dann, nachdem wir bereits weggezogen waren, habe ich immer wieder mit dem Gedanken gespielt, es meinen Eltern zu erzählen. Manchmal war ich ganz kurz davor, es ihnen zu sagen. Aber nachdem sich diese Frau …, meine Mutter, aufgeknüpft hatte, beschloss ich zu schweigen. Ich dachte mir, wenn ich meinem Vater nun auch noch mit meiner Ulrich-Version käme, dann steckt er mich umgehend ins Heim. Wenn du so jung bist wie ich damals und deine Eltern nicht mehr dieselben sind wie die, die sie mal waren, hast du Angst vor so etwas, zumindest erging mir das so.« Er schnappte sich die nächste Bierflasche, zog das Feuerzeug aus der Hemdtasche und öffnete damit die Flasche. »Blättert das Fotoalbum durch«, sagte er dann. »Lest die Artikel. Es sind insgesamt acht verschiedene Fälle von verschwundenen Kindern. Deutschland, Schweiz, Italien, Kanada, Argentinien ... . Es könnten tatsächlich entführte Kinder sein, doch das sind sie nicht. Ihr Verschwinden trägt immer die gleiche Handschrift, eine Sache ist immer gleich. Wenn ihr aufmerksam lest, fällt es euch auf. Wie gesagt: Ich habe vor zig Jahren aufgehört, zu sammeln und zu recherchieren. Zwischenzeitlich dürften weitere Vorfälle passiert sein, auch welche, die nie an die Öffentlichkeit gelangten. Ich hatte lange weggeguckt, aber jetzt ist mein Hunger auf die Antwort wieder da.«
Joachim zog das Fotoa lbum zu sich und schlug es auf.
»Ich gehe auf den Balkon und rauche eine«, sagte Michael. »Aschenbecher brauche ich nicht, ich nehme 'ne leere Pulle.« Er stand auf, schnappte sich eine leere und die gerade geöffnete Bierflasche, ging zur Balkontür und trat hinaus, zog die Tür hinter sich zu.
Joachim las den Artikel über Ulrichs Verschwinden.
»Ich glaube ihm kein Wort«, zischte Carola. »Glaubt er diese Glasmurmelgeschichte etwa selbst?«
»Er hat es zumindest ziemlich glaubhaft erzählt«, sagte Joachim ohne aufzusehen.
»Entweder, er ist ein ausgebuffter Lügner oder in seinem Kopf gibt es so etwas wie eine Parallelwirklichkeit. Oder beides.«
Joachim reagierte nicht. Er las weiter.
»Na klasse«, murmelte Carola genervt, stand auf und verließ den Raum. Sie guckte in die Kinderzimmer. Beide Jungs schliefen, auch Daniels Schlaf war ruhig. Sie ging in die Küche, nahm die geöffnete Weinflasche aus dem Kühlschrank und schenkte ein Glas voll. Dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Joachim war noch immer am Lesen. Michael stand auf dem Balkon, den Rücken zu ihnen gewandt. Einen Moment lang war Carola unentschlossen, dann gab sie sich einen Ruck.
Michael drehte sich um, als die Balkontür aufgezogen wurde und Carola heraustrat.
»Hi«, sagte er und lächelte sanft.
»Hallo «, murmelte sie.
Einen Augenblick lang schwiegen beide. Schließlich sagte er: »Schade, dass wir uns unter diesen Umständen wiedersehen.«
Sie nippte am Wein.
»An was denkst du gerade?«, fragte er.
»Woran ich seit einiger Zeit ständig denke.«
»An das Mobile und deinen Sohn, nehme ich an. «
»Das war ja nicht schwer zu erraten .«
Er betrachtete sie schweigend, dann sagte er: »Man fragt sich, wie
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