Modemädchen Bd. 2 - Wie Marshmallows mit Seidenglitzer
und in Sicherheit zu kommen.
Erst nachdem die Maschine gestartet ist, schafft es Harry, uns von seinem Ausflug mit Ganesh zu berichten.
»Und wisst ihr, was das Schlimmste ist?«
Nein, das wissen wir nicht.
»Das Gebäude, das er mir gezeigt hat – es war ein ganz normaler Wohnblock. Überhaupt nichts Besonderes. So wie es sie in Mumbai zu Tausenden gibt. Wenn man sucht, wo soll man bloß anfangen?«
Danach sagt Harry nicht mehr viel. Er vertieft sich in sein Buch. Doch mir ist aufgefallen, dass er Edie mit einem merkwürdigen Blick ansieht, als hätte er endlich kapiert, dass ihre fixe Idee, die Welt zu retten, mehr ist als bloß ein Teenagerhobby. Ich bin froh, dass sie seinen Blick nicht sieht. Sonst würde sie versuchen diesen Wasserfalleffekt mit ihren Haaren nachzumachen und dunkelrosa im Gesicht werden. Statt ERDKUNDE ZU LERNEN, was die Beschäftigung ihrer Wahl ist.
Warum macht sie sich bloß die Mühe? Sie weiß doch eh längst alles.
Ich bin zu Hause in meinem Zimmer, habe meinen Hello-Kitty-Schlafanzug an und mache eine Liste der gruseligen Dinge, die uns bevorstehen.
Zwei Monate bis zu Harrys Abschlussausstellung. Sein Problem, nicht meins, aber trotzdem gruselig.
Zweiundvierzig Tage bis zur Erdkundeprüfung. Ich weiß immer noch nicht, was der Unterschied zwischen dem Atlantik und dem Pazifik ist. Und es kommt keine Frage zu Indien. Nicht eine einzige. Leider gibt es, soweit ich weiß, im nördlichen Polarkreis keine nennenswerten Kleiderfabriken. Wobei, so wie die Erderwärmung voranschreitet, dauert es vielleicht nicht mehr lang.
Elf Tage, bis Sanjay in unserem alten Hotel in Mumbai auftaucht (falls er dort auftaucht), um den Brief abzuholen, in dem steht, wie wir helfen. Ich habe immer noch keine Ahnung, was in dem Brief stehen wird. Harry genauso wenig. Nicht mal Edie weiß es, aber sie ist in Kontakt mit Phil und ihren anderen Rettet-die-Welt-Bloggerfreunden.
Acht Tage bis zu Jennys Premiere im größten gruseligsten Schauspielhaus im Westend.
Sieben Tage bis zu unserem nächsten Treffen mit Andy Elat, bei dem Krähe eine neue Kaufhauskollektion aus dem Hut zaubern muss und Edie mit voller Überzeugung sagen soll, dass sie absolut glücklich über die Art und Weise ist, wie die Miss-Teen-Kleider in Indien hergestellt werden. Was sie natürlich absolut nicht ist.
Einen Tag, bis ich Granny treffe, um Plan Jenny auf den Weg zu bringen. Ich kann nur hoffen, dass Granny in den letzten Tagen auf Achse war, denn wenn sie nicht erledigt hat, worum ich sie gebeten habe, bin ich erledigt.
Henry hat gerade angerufen, um zu sagen, dass er Krähe abholen kommt, die noch unten im Atelier ist. Ich sehe auf die Uhr auf meinem Laptop. 22:35 Uhr. Sie hätte schon vor Stunden heimgehen sollen, aber sie ist so beschäftigt, dass sie die Zeit vergisst. Was mich nachdenklich macht. Es stimmt, wir sind auch Kinder und wir arbeiten manchmal viel. Doch der große Unterschied zwischen uns und Lakshmi und Ganesh ist, dass es in unserem Leben Erwachsene gibt, die uns bei der Arbeit unterbrechen, damit wir in die Schule gehen und schlafen. Nicht umgekehrt.
Als ich vorhin bei Krähe reingeschaut habe, hatte sie all ihre Pariser Federn und die Spitze und den Tweed und die Borten von der Pinnwand genommen und in eine große Pappschachtel gepackt. Ich habe gefragt, was sie stattdessen nehmen will. Zur Antwort hat sie auf den Tisch gezeigt, doch ich konnte nur einen Stapel kitschiger Postkarten aus Agra sehen, ein paar leere Blätter Papier, ein weißes Taschentuch und ein paar billige Halbedelsteine.
Ich hatte säckeweise Perlen und ballenweise bunte Seide und Goldfäden erwartet. Und die paillettenbesetzten Pantoffeln und die mit Glitzersteinen verzierten Notizbücher und die Schlüsselringe mit den indischen Puppen – all die Sachen, die wir auf unserer Reise gesammelt haben. Ich dachte, der Berg ihrer Inspiration hätte psychedelische Ausmaße angenommen, aber ich habe mich geirrt. Im Gegenteil. Ist Krähe vollkommen durchgedreht?
Keine Ahnung, was sie vorhat, aber immerhin sehe ich, dass sie keine Blockade mehr hat. Seit Monaten wollte der kreative Teil ihres Gehirns komplizierte Haute Couture machen und der praktische Teil wollte simple Entwürfe machen. Und beide Teile wollten gar nichts machen, solange wir nicht wussten, was mit den Kindern ist.
Doch irgendetwas ist passiert. Der frustrierte Ausdruck ist verschwunden. Ihre Finger zucken und zeichnen wieder ständig, selbst wenn sie kein Papier zur Hand
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