Modemädchen Bd. 2 - Wie Marshmallows mit Seidenglitzer
lautstark ein. Allmählich begreifen wir, dass sie Lakshmis Geschichte für sie erzählen, während Sanjay übersetzt.
Die Kricketspieler verlassen das Feld. Der Kreis wird größer. Die Geschichte geht so.
Es waren einmal vor langer Zeit zwei Kinder, die auf dem Land lebten. Sie erinnern sich nicht mehr genau, wann es war, aber eines Tages verließen sie ihr Elternhaus und gingen mit Männern mit, die sie mit dem Zug nach Mumbai brachten und in einem kleinen Raum arbeiten ließen. Die Männer sagten, es habe viel Geld gekostet, sie hierherzubringen und in dem kleinen Raum für sie zu sorgen, und sie würden Jahre brauchen, um das Geld zurückzuzahlen. Die Kinder wussten nicht, warum sie für etwas bezahlen mussten, das sie gar nicht wollten, aber sie hatten keine Wahl. Sie mussten arbeiten, vom ersten Sonnenstrahl bis in die dunkle Nacht. Ganesh war schnell und stark und tat, was er konnte, um seine kleine Schwester vor der schlimmsten Prügel zu bewahren und ihr Essen zuzustecken, wenn er etwas stehlen konnte.
Sie wurden vor der Polizei und »Schnüfflern« in Kammern zwischen den Stockwerken der Gebäude oder in Kellern versteckt und mussten alle paar Monate umziehen. Man brachte ihnen das Sticken bei und sie wurden sehr gut darin. Doch als Ganesh älter wurde, bekam er eine neue Aufgabe. Er wurde Bote und Kurier für die Bosse.
Letztes Jahr war er unterwegs, um ein Päckchen Garn abzuholen, als in dem Raum, in dem Lakshmi arbeitete, Feuer ausbrach. Es passierte häufig, dass es brannte. Einer der Bosse machte auf dem Ofen in der Ecke Mittagessen und der Ofen fiel um. Die Tür war abgeschlossen und es gab keine Fenster. Es dauerte eine Weile, bis sie den Flammen entkamen.
Deswegen hat Lakshmi nur noch die Hälfte ihrer Haare und nur ein Auge, und deswegen hat sie die Narben im Gesicht und am Hals und zwei ihrer Finger sind miteinander verwachsen. Deswegen kann sie nicht mehr richtig sticken und wird stattdessen zum Betteln auf die Straße geschickt. Als es passiert ist, war sie sieben.
Während die anderen die Geschichte erzählen, rückt Lakshmi näher zu mir heran. Ich weiß nicht, warum sie mich aussucht. Normalerweise interessieren sich die Leute mehr für Edie oder Krähe. Doch am Ende sitzt Lakshmi auf meinem Schoß und ich streiche ihr über die Haare, die sie noch hat und die lang und seidig sind. Sie spielt mit meinen Armreifen. Ich nehme mehrere davon ab und streife sie ihr über das Handgelenk. Ihre Arme sind so dünn, dass ihr die Armreifen leicht über die Ellbogen gleiten, bis hinauf zu den Achseln. Wir lachen. Ich nehme meinen Schal und lege ihn ihr um den Hals.
»Schön«, sage ich.
Sie dreht überrascht den Kopf und sieht mich an. »Schön« ist eins der wenigen englischen Wörter, die sie kennt. Sie muss es häufig sagen, um die Touristen zu überreden ihr Geld zu geben, aber ich glaube nicht, dass es schon mal jemand zu ihr gesagt hat.
Doch sie ist wirklich schön. So klein und so stark. Die Wimpern an dem Auge, das sie noch hat, sind lang und gebogen – wie die falschen Wimpern, die ich mir bei dem Katastrophendate mit dem ersten Kuss angeklebt habe, nur zuverlässiger. Ihr Gesicht ist fein und zart geschnitten. Ihr Lächeln erinnert mich an das von Krähe: Es kommt plötzlich und strahlend. Dass sie auf meinem Schoß sitzt, fühlt sich ganz normal an. Ich will sie gar nicht mehr gehenlassen.
Plötzlich ruft jemand. Ganesh ist da. Im Vergleich mit den anderen ist er groß gewachsen, ein Junge mit dem Körper eines mageren Zehnjährigen und den müden Augen eines Erwachsenen. Er hat immer noch das Kleid an, als er auf uns zukommt, und lässt uns nicht aus den Augen, vor allem als er mich mit seiner kostbaren Schwester sieht.
Sanjay redet hastig auf ihn ein, zeigt auf mich und erwähnt das Wort »schön« und lacht dabei. Danach wirkt Ganesh etwas weniger misstrauisch. Er stellt sich zu den anderen und Sanjay übersetzt für uns, als wir ihn fragen, was letztes Jahr passiert ist.
Hat er gesehen, ob das Kleid, das er trägt, von Kindern gemacht wurde? Ist es nachgemacht oder ein echtes? Was ist geschehen?
Zuerst will er nicht antworten, doch die anderen Kinder reden auf ihn ein. Das Schlimmste haben sie uns schließlich schon erzählt. Langsam gibt Ganesh nach. Er lässt zu, dass Krähe das, was von dem Kleid übrig ist, untersucht, und sie kommt zu der Überzeugung, dass es zu gut gemacht ist, um eine Fälschung zu sein. Dann hebt er das Hemd und zeigt auf einen Fehler in der
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