Modesty Blaise 02: Die Lady bittet ins Jenseits
jetzt fünf Minuten vor Schluß, aber die wenigen letzten Besucher schickten sich bereits an, zu gehen. Es waren bedeutend weniger gewesen als während der ersten drei Wochen der Ausstellung. Oftmals war das Museum schon eine halbe Stunde vor Schluß leer.
Die Frau war noch immer da und studierte noch immer den Watteau.
Sie machte kurze Notizen in ein dünnes Büchlein, und jedesmal, wenn sie mit einer Eintragung fertig war, machte sie die große Tasche auf, die sie an einem Schulterriemen hängen hatte, und legte das Notizbuch hinein.
Hierauf sah sie das Gemälde wiederum eine Zeitlang an, machte wieder die Tasche auf, nahm das Notizbuch heraus, schrieb hinein und steckte es wieder weg.
Eine Lehrerin, schätzte Henri. Keine schlechten Beine, stellte er kritisch fest, und die Hinteransicht war ausgesprochen nett. Aber um die Mitte war sie dick, und einen Bauch hatte sie außerdem. Ihre Gesichtshaut war gelblich, und auf der Oberlippe hatte sie Schnurrbartflaum.
Ein Jammer, dachte Henri. Wenn sie ein bißchen mehr auf ihre Figur achtete und sich etwas Netteres angezogen hätte als diesen traurigen braunen Nylonmantel, wäre sie gar nicht so übel. Das Kopftuch mit Fransen, unter dem eine braune Haarsträhne bis an die Augenbraue herabhing, hatte dieselbe Farbe wie der Mantel. Die Brille, die sie trug, paßte ebenfalls nicht zu ihr. Verglichen mit alldem war die nette Hinteransicht die reinste Verschwendung.
Das Telefon in der kleinen Zelle seitlich der Passage läutete kurz.
Ohne Hast ging er durch den Torbogen hinaus und betrat die Zelle. Er setzte sich auf den hohen Stuhl dort und nahm den Hörer ab.
Modesty Blaise warf einen raschen Blick um sich und trat einen Schritt von dem Absperrseil, das quer über den ganzen Alkoven hing, zurück. Sie klemmte die schwere Handtasche unter den rechten Arm, schob eine kleine Klappe an der Schmalseite der Tasche zurück und zog eine dünne Röhre mit einem düsenförmigen Ende daraus hervor.
Sie ließ die Tasche nun wieder von der Schulter hängen und begann die Röhre wie eine Teleskopantenne mit beiden Händen auseinanderzuziehen. Die Röhre bestand aus einer besonders leichten Legierung. Binnen fünf Sekunden hatte sie diese auf eine Länge von drei Metern auseinandergezogen – eine sich verjüngende, exakt gefertigte Metallrute. An dem einen Ende mit der Düse standen in einem Winkel zueinander zwei aus verschiedenen Metallen hergestellte, zweieinhalb Zentimeter lange Teile ab. An dem dickeren Ende befand sich ein großer Metallgriff mit einem kleinen Knopf darauf und einem noch kleineren Loch neben dem Knopf. Vom Griff weg führte ein Gummischlauch direkt in die Tasche.
Modesty ergriff nun die Gerte äußerst vorsichtig mit beiden Händen, so wie eine Angelrute, und hob sie hoch über ihren Kopf, wo sie hin und her schwankte.
Langsam ging sie auf die Absperrung zu. Die Sekunden auf der Uhr in ihrem Kopf vertickten, aber ihre Bewegungen waren nicht hastig.
Sie mußte das Gerät zwei Meter über dem Boden halten, um die elektronische Alarmvorrichtung nicht auszulösen, das wußte sie. Graziös, den Arm über dem Kopf voll ausgestreckt, stand sie nun so nahe an der Barriere, als sie es wagen konnte, und brachte die Düsenspitze in die obere linke Ecke des goldenen Louis-Quinze-Rahmens.
Als die beiden feinen Stahlteile die Leinwand und die Ränder der Rahmenecke berührten, glomm in der Öffnung des Griffs ein winziges Licht auf; das Zeichen, daß die Düse genau in Position lag. Ihr Daumen drückte den Knopf neben der Öffnung. Und hielt ihn nieder.
Ein kaum vernehmbares Zischen drang aus dem Gerät, während die Düse einen Sprühregen zerstäubte, der aus dem langen Metallbehälter auf dem Boden ihrer Tasche kam.
Fünfunddreißig Sekunden.
Ein Stockwerk höher sagte der Direktor in seinem Büro: «Gewiß, Henri, ich bin überzeugt, daß Sie nicht versäumen werden, die routinemäßige Kontrolle aller Sicherheitsvorkehrungen durchzuführen, aber der Herr hier bei mir –» er bedachte Ransome mit einem frostigen Lächeln – «wünschte von mir, daß ich Ihnen sage, Sie mögen auf uns warten. Hm. Ja. Wir werden in ein paar Minuten unten sein.»
Ransome streckte die Hand aus und sagte ruhig:
«Lassen Sie mich mit ihm sprechen, bitte.»
«Mit Henri?» Der Direktor erstarrte. Er sagte in das Telefon: «Warten Sie, Henri.» Nun blickte er Ransome mit unverhohlenem Ärger an. «Wirklich, Monsieur, er kann Ihnen auch nicht mehr sagen, als was ich Ihnen schon
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