Modesty Blaise 02: Die Lady bittet ins Jenseits
sagte. Es hat wenig Sinn, mit ihm zu sprechen.»
«Ich spreche gerne mit allen», entgegnete Ransome grob. «Mit dem Inspektor, mit Ihnen, mit Henri, mit allen, die mit der Sache zu tun haben. Vielleicht sind Sie der Ansicht, daß ich anders vorgehen sollte, aber Monsieur Leighton beauftragte mich, nach meiner Methode zu arbeiten.»
Die Lippen des Direktors wurden zu einem Strich.
Wortlos reichte er Ransome den Hörer über den Tisch und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
Ransome nahm den Hörer. «Henri? Mein Name ist Ransome. Ich arbeite im Auftrag von Monsieur Leighton, dem Besitzer des Watteau. Ich werde in wenigen Minuten bei Ihnen unten sein, aber ich möchte schon jetzt etwas von Ihnen wissen. Wer paßt in dem Ausstellungsraum auf, während Sie hier mit mir telefonieren?»
Niemand paßte in dem Ausstellungsraum auf. Modesty Blaise führte ihre leise zischende Düse nun entlang des unteren Bildrandes. Ohne die Stahlgabel von der Leinwand zu heben, ließ sie den Daumendruck auf dem Kontrollknopf nach.
Der ganze Rand des Bildes war jetzt mit einer undurchsichtigen, zweieinhalb Zentimeter breiten gelblichweißen Schicht bedeckt. Noch während sie hinsah, trocknete die Masse und bekam eine matte Oberfläche, deren Farbton haargenau auf die Farbe der Mauer, an der das Bild hing, abgestimmt war. Mehr als sechzig Sekunden. Kaum mehr als die beste Zeit, die sie gestern bei ihren vielen Proben in einer Pariser Garage herausgeholt hatte. Der zweite Teil ihrer Arbeit, das Überdecken der übrigen Fläche, würde rascher gehen, weil sie nicht mehr befürchten mußte, über den Rand hinauszukommen. Sie begann die Düse nun etwas freier hin und her zu führen, ohne auf den wachsenden Schmerz in ihren ausgestreckten Armen zu achten. Ein Teil ihres konzentriert arbeitenden Geistes lauschte dem Gespräch Henris am Telefon. Obwohl die Zelle etwa zehn Schritt vom Eingang des Saales entfernt war, konnte sie ihn jetzt hören, denn seine Stimme hob sich mehr und mehr.
In dem Büro im oberen Stockwerk sagte Ransome:
«Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, daß Sie Ihre Pflichten vernachlässigen, Henri. Ich glaube Ihnen selbstverständlich, daß Sie von dort, wo Sie jetzt sitzen, jeden sehen können, der aus dem Saal herauskommt, und ich weiß auch, daß niemand an das Bild heran kann, solange das elektronische Alarmsystem eingeschaltet ist. Das Gemälde kann also zumindest nicht gestohlen, aber es könnte von jemandem beschädigt werden.» Er brach ab, lauschte ungeduldig, versuchte Henri zu unterbrechen, was ihm erst beim dritten Versuch gelang. «Ja, ich weiß, so jemand müßte verrückt sein, Henri, aber es gibt genug verrückte Leute. Schön, momentan ist also bloß irgendeine Lehrerin dort, aber ich spreche ja nicht von diesem Moment. Versuchen Sie doch bitte den einfachen Fall anzunehmen, daß …» Er brach abermals ab, riß den Hörer vom Ohr, als Henri am anderen Ende des Drahtes seiner Empörung geräuschvoll Luft machte. Als es schließlich still im Hörer wurde, legte er mürrisch auf. Der Direktor lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
Seine gute Laune war wiederhergestellt. Dieser Ransome hatte seinen Meister gefunden.
Er für seine Person brauchte sich um die Fortsetzung der Debatte keine Sorge mehr zu machen. Henri würde das besorgen. Wenn es zu einer hitzigen Auseinandersetzung kam, dann war Henri nicht zu bremsen.
Er würde diesen Ransome fertigmachen, ohne sich auch nur im geringsten zu verausgaben.
Modesty Blaise schob die beiden letzten Teile ihres Düsengeräts ineinander. Sie blickte auf den, Watteau.
Die aufgesprühte Schicht war schon fast ganz getrocknet. Man hatte den Eindruck, als blicke man durch den leeren Rahmen unmittelbar auf die dahinterliegende Wand.
Sie schloß die kleine Klappe an der Schmalseite ihrer Tasche und schritt langsam auf den Torbogen zu. Sie hatte Notizbuch und Bleistift in Händen und schrieb ganz vertieft, während sie ging.
Henri knallte den Hörer auf die Gabel und warf ihr, als sie vor der kleinen Zelle erschien, einen wütenden Blick zu. Sie blieb stehen, beendete ihre Eintragung, steckte das Notizbuch ein und ging dann lebhaft durch den großen Saal auf den Ausgang zu. Henri sah ihr zwar nach, aber mit den Gedanken weilte er bei größeren Dingen. Ein unklares Gemisch von Wort- und Bildsymbolen in Zusammenhang mit der «netten Hinteransicht» blitzte ihm durch den Sinn, zerrann jedoch sofort wieder. Dann überließ er sich ganz den Freuden des Hasses und bereitete
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