Modesty Blaise 04: Ein Gorilla für die Lady
nicht.
«Nun», fuhr Delicata gedankenvoll fort, «hast du jemals beobachtet, daß bei dem weniger erfahrenen Teil der menschlichen Rasse die nächtlichen Ängste von der aufgehenden Sonne vertrieben werden? Antworte nicht, Casey, ich hasse Unterbrechungen. Ja, die glückliche Morgendämmerung ist unsere Zeit, denke ich.
Inzwischen müssen wir nach Beauvais telefonieren.
Eine Telefonzelle? Nein. Es ist widerwärtig, eine Menge Münzen in einen Schlitz zu werfen.»
Er beugte sich vor und packte die Rückenlehne des Sitzes mit der riesigen Hand. Casey erzitterte leise.
«Ein privater Telefonanschluß – oder sollen wir sagen, halb privat?» In Delicatas Stimme lag lebhafte Erheiterung. «Die Polizeistation ist nicht zu weit entfernt. Ich bin sicher, ich kann sie dort dazu überreden, mich telefonieren zu lassen, wenn die Angelegenheit so dringend ist. Ein Gespräch mit Gebührenangabe natürlich. Die Taschen der Steuerzahler sollen nicht leiden.» Er lehnte sich wieder zurück. «Ja, fahren wir zur Polizeistation.»
Casey wischte sich das Gesicht ab. «Großer Gott!», sagte er zu sich und griff dann nach dem Zündschlüssel.
Mit einem sauren Geschmack im Mund erwachte Collier aus unruhigem Dämmerschlaf. Er schaute auf seine Uhr und stellte fest, daß er etwas über eine Stunde geschlafen hatte. Es war 7 Uhr 30, und die Sonne stand am Himmel.
Er goß sich Wasser ins Gesicht, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und ging dann hinüber in Dinahs Zimmer. Die Tür stand offen, aber sie war nicht da. Er lauschte und hörte unten in der Küche das Klappern von Geschirr und darauf das Summen der elektrischen Kaffeemühle.
Er schaltete den Infrarot-Stromkreis aus und schaute aus dem Fenster. Dieser oder jene Händler konnte im Laufe des Morgens vorbeikommen, und Collier wollte vermeiden, daß er den Alarm auslöste. Der Himmel war blau, die Erde grün, und seine Stimmung besserte sich. Während der Nacht hatte er beschlossen, die Stahlmaschengitter geschlossen zu lassen und auch tagsüber deren Alarmanlage in Betrieb zu halten. Er und Dinah würden in sicherer Verwahrung bleiben, und wenn es dem Milchmann nicht paßte, konnte er die Milch unter die Tür schütten.
Doch jetzt schien ihm der Gedanke einigermaßen komisch. Das Tagesmädchen und der Stallknecht würden um neun Uhr kommen. Unentschlossen spielte er mit dem zweiten Schalter herum, der für die Alarmanlage der Stahlmaschengitter zuständig war. Dann ließ er es bleiben. Er konnte das ebensogut erst entscheiden, wenn die beiden aus dem Dorf ankamen. Ob er das Mädchen für diesen Tag heimschickte und dem Stallknecht sagte, er solle einfach weitermachen? Achselzuckend verschob er die Entscheidung darüber.
Als er sich vom Fenster abwandte, sah er noch den kleinen roten Umriß des Postwagens, der über den Hügelrücken gefahren kam und sich den Feldweg hinunterbewegte. Er grinste vor Erleichterung und war froh, rechtzeitig genug erwacht zu sein, um die Infrarot-Strahlen auszuschalten.
Als er hinuntereilte und in die Küche trat, sah er, daß Dinah mit der Zubereitung des Frühstücks begonnen hatte. Sie war angezogen und wirkte frisch und attraktiv. Ihr Lächeln, mit dem sie sich ihm zuwandte, verdeckte fast den darunterliegenden Schatten innerer Anspannung. «Hallo, Steve.»
«Hallo, Dinah.» Er legte ihr einen Augenblick den Arm um die Schultern. «Warum sehen Sie nicht scheußlich aus? Mir wäre dann viel wohler zumute.»
«Sehen Sie denn so scheußlich aus?»
«Ja. Habe ich noch Zeit, mich zu rasieren, ehe das Frühstück fertig ist?»
«Wenn Sie sich beeilen –»
«In vier Minuten. Oh, und machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie etwas kommen hören –»
«Ich habe es schon gehört, aber es ist nur der Postwagen. Ich kenne das Motorengeräusch.»
Collier seufzte. «Und ich habe mir fast den Hals gebrochen, um die Treppe hinunterzugelangen, Sie an meinen Busen zu drücken und Ihre Mädchen-Ängste zu besänftigen.» Auch er konnte jetzt den Motor hören.
Das Geräusch wurde lauter und schaltete dann plötzlich um auf ein leises Tuckern, als der Wagen anhielt. Collier wandte sich zum Gehen. «Hoffentlich sind es nur Briefe. Wenn wieder ein unfrankiertes Päckchen mit Perlen dabei ist, wird er das Porto einziehen wollen.
Dann muß ich mir überlegen, ob ich die Tür öffne.»
Er ging hinaus und schritt den Gang zur Diele hinunter. Der Briefkastenschlitz klappte auf, und zwei Briefe flatterten auf die Matte. Als Collier sich bückte, um sie
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