Modesty Blaise 09: Die Lady fliegt auf Drachen
fünf Sinne wieder beisammen hatte und etwas genauer wußte, was sich abspielte. Über die Schulter seiner Frau hinweg sah er den Geistlichen an und fragte: «Hat Ihnen dieser Kerl gesagt, ich solle beim Telefon bleiben?»
«Ich habe Ihnen seine Worte genau wiedergegeben, Mr. Ross.»
«Gut. Schon gut.» Er nickte mechanisch, als er fortfuhr: «Ja. In Ordnung. Ja. Nun, wir werden eine Weile nicht telefonieren und abwarten, was geschieht. Hör auf zu weinen, Alice. So ist es brav. Ich weiß, das alles klingt ein wenig häßlich, aber ich kann nicht glauben, daß es so ist, wie es klingt. Ich meine, es klingt doch nicht so, als ob sie in der Gewalt irgendeines Sittlichkeitsverbrechers wäre, nicht wahr? Und warum sollte überhaupt jemand Carrie entführen wollen?
Wir
haben kein Geld. Tut mir leid, Herr Pfarrer. Alice, mach uns eine Tasse Tee; während wir warten, werden wir überlegen, was wir tun können, aber die Polizei werde ich nicht verständigen. Jedenfalls noch nicht.»
«Es … es kann doch nicht die I.R.A. sein, Bert? Wir haben ihnen doch nie etwas Böses getan.»
«Nein, nein, bestimmt nicht.»
«Glaubst du, daß du deinen Cousin Tom verständigen solltest? Er ist bei der Bahnhofspolizei …»
«Red keinen Unsinn, Alice! Nein, entschuldige, ich wollte nicht schreien. Tut mir leid. Aber geh weg vom Telefon, bitte.»
Harold Parker lehnte sich in seinem Stuhl nach vorn, fiel auf die Knie, senkte den Kopf und faltete die Hände steif unter seinem Kinn. «Ich werde beten», verkündete er. Die beiden Ross starrten die kniende Gestalt überaus verlegen an. Alice wischte sich über die Augen. Albert klopfte ihr auf den Arm und sagte leise:
«Mach Teewasser heiß, meine Liebe.»
Fünf Minuten später kniete der Mann von der Kirchenmissionsgesellschaft immer noch in stillem Gebet.
Vor dem Sofa stand auf einem niedrigen Tisch ein Teetablett, und Mr. und Mrs. Ross saßen davor und fühlten sich unbehaglich, weil sie weder sprechen noch Tee einschenken wollten, bevor ihr Besucher geendet hatte.
Als das Telefon schellte, sprang Albert auf, und seine Frau stieß einen kleinen Schrei aus.
Harold Parker bewegte sich nicht.
Mißtrauisch ging Albert Ross zum Telefon, nahm den Hörer ab und sagte: «Hallo?»
«Mr. Albert Ross?» Die Stimme des Mannes war höflich.
«Am Apparat.»
«Ich übergebe an Ihre Tochter.»
Während der endlosen Sekunden des Wartens spürte er, wie das Blut aus seinem Gesicht wich, dann hörte er Carolines Stimme aufgeregt und unsicher: «Vati? Vati? Ich bin es.»
«Carrie! Geht es dir gut? Wo bist du?»
«Ich weiß es nicht. Man hat mir die Augen verbunden, und ich bin an ein Bett geschnallt, so daß ich mich nicht rühren kann.»
Einen Moment lang brach ihre Stimme, dann fuhr sie mit größter Dringlichkeit fort: «Hör zu, Vati. Sie sagen, ich hab nicht lange Zeit. Sie werden dir etwas sagen, was du tun mußt. Wenn du es nicht tust, werden sie mir sehr weh tun. Und sie werden es machen, Vati, sie haben es mir schon ein wenig gezeigt.» Sie begann zu schluchzen. «Bitte, Vati, bitte …»
Ihre Stimme wurde unhörbar, als ihr das Telefon weggenommen wurde, dann hörte Albert Ross wieder die männliche Stimme mit dem leicht irischen Akzent.
«Mr. Ross?»
Die Angst, die ihn überkam, war so lähmend, daß er drei Versuche machen mußte, bevor seine Zunge ihm gehorchte.
«Ja.»
«Es ist ganz einfach, Mr. Ross. Wenn Sie heute um zwei Uhr morgens Ihren Dienst antreten, schieben Sie die beiden Riegel an den Notausgängen zurück. Und wenn Sie um vier Uhr den Dienst verlassen, schieben Sie die Riegel wieder vor, wobei Sie die ganze Zeit Handschuhe benutzen. Verstehen Sie?»
Nach zehn Sekunden sagte Albert Ross gepreßt:
«Wir sind zu zweit.»
«Es sind vier Räume und zwei Korridore zu patrouillieren. Es ist bekannt, daß Sie sich über Ihren Kollegen Mr. Timpson beklagt haben, weil er die halbe Zeit auf einer Bank vor sich hindöst. Sollen wir Ihrer Tochter mitteilen, daß Sie es nicht tun können, Mr. Ross?»
«Nein! Nein, es geht in Ordnung. Ich erwähnte ja bloß …» Er verstummte.
Der Mann mit dem irischen Akzent sagte: «Gut. Tun Sie, was wir verlangen, und Sie werden Caroline morgen früh gesund zurück haben.» Es gab einen Knacks, und dann den Summton. Sehr langsam legte Albert Ross den Hörer auf. Alice zitterte in seinem Arm und fragte: «Was ist los, Bert? Was geschieht? Wo ist Carrie?» Die hagere Gestalt des Geistlichen hatte sich nicht bewegt. Immer noch
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