Modesty Blaise 10: Der Xanadu-Talisman
Abend notwendig war, an dem Mädchen ein Exempel zu statuieren. Wir müssen stets die täglich anfallende Arbeit erledigen. Und überdies ist der große Coup noch nicht erledigt, weil wir die Lieferung noch nicht haben, nicht wahr? Die besten Pläne können hin und wieder schief gehen, vergesst das nicht.«
Die beiden Brüder sahen einander über den Tisch an, dann richteten sie den Blick auf Nannie Prendergast. Langsam sagte Jeremy Silk: »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass etwas schief gehen kann, Nannie? Das … das Objekt ist sicher an Bord der
Kythira
, und in den nächsten Tagen wird uns Baillie-Smythe verständigen. Dann nehmen wir einfach das Boot, fahren zum Schiff und nehmen die Lieferung in Empfang.«
»Das hoffe ich, mein Lieber, aber wir wollen den Kuchen nicht verteilen, bevor er gebacken ist, nicht wahr?« Sie lächelte, und wieder verwandelte sie sich einen Moment lang von einer
jolielaide
in eine schöne Frau. »Was jedoch den Mann Gautier betrifft, habe ich gute Nachrichten für euch. Wie ich sehe, hat keiner von euch die heutigen Berichte gelesen.«
Jeremy legte die Hand auf ihren Arm. »Was gibt es, Nannie?«
»Einer unserer Vertrauensmänner bei der Polizei in Casablanca hat an unsere Poste-restante-Adresse berichtet. Offenbar war Gautier unter den Leuten, die während des Erdbebens in El Jadida verletzt wurden. Unser Mann ist zufällig dort gewesen und hat ihn erkannt. Gautier wurde im Hotel Ayachi verschüttet.«
»Im Ayachi?«, wiederholte Dominic ungläubig. »Das muss ein Irrtum sein, Nannie. Gautier ist längst außer Landes.«
»Es ist kein Irrtum, mein Lieber. Der Mann, der ihn erkannt hat, ist unser Zahlmeister für die Gegend. Er hat jeden Monat Gautiers Zahlung entgegengenommen. Gautier hatte einen falschen Pass auf den Namen Martel bei sich, aber das ist nicht erstaunlich. Er konnte es nicht wagen, im El-Mico-Territorium unter seinem eigenen Namen zu reisen.«
»Ich kann nicht verstehen, warum er noch hier ist«, sagte Jeremy Silk nachdenklich. »Ist er jetzt im Krankenhaus?«
»Nein. Anscheinend wurde er gemeinsam mit einer jungen Frau verschüttet, die ihn in ihr Haus in Tanger brachte, weil alle Krankenhäuser überfüllt waren. Ich habe, natürlich als El Micos Sekretärin, unseren Mann in Tanger angerufen, und er hat sofort bestätigt, dass ein Verletzter aus dem El-Jadida-Erdbeben immer noch bei der jungen Dame wohnt.«
»Woher will er das wissen, ohne Zeit gehabt zu haben, es zu überprüfen?«
»Weil die junge Dame in Tanger gut bekannt ist und uns, ohne es zu wollen, von großem Nutzen war, als sie sich zurückzog. Wie ihr euch sicher erinnern werdet, hat sie einige gute Geschäftsverbindungen hinterlassen, die ohne sie nicht funktioniert haben und bald von El Mico übernommen werden konnten.«
Dominic lehnte sich in seinen Sessel zurück und grinste. »Modesty Blaise?«
»Du sagst es.«
»Verdammt noch mal.«
»Wie bitte?«
»Entschuldige, Nannie.« Er schüttelte den Kopf.
»Seltsam, dass wir einander nie in die Quere kamen, als sie noch das ›Netz‹ geleitet hat.«
»Das haben wir sorgfältig vermieden«, sagte Nannie Prendergast.
»Jetzt ist das natürlich anders.«
»Ja, aber jetzt sind wir nicht an ihr interessiert. Das einzig Wichtige ist, dass an Gautier ein Exempel statuiert wird, und zwar auf ganz eindeutige Weise.«
»Und durch El Mico persönlich«, sagte Jeremy. »Es ist wichtig für das Image. Denkst du an etwas Bestimmtes, Nannie?«
Sie stand auf. Die beiden Männer erhoben sich ebenfalls und sahen ihr nach, als sie auf die Terrasse ging. Der Rock umspielte ihre langen, wohlgeformten Beine, ihr Körper war rank und schlank wie der einer zehn Jahre jüngeren Frau. Sie stand vor dem großen geöffneten Fenster und schaute über das Meer, dann drehte sie sich um und lächelte. Doch diesmal veränderte das Lächeln ihre Züge nicht. »Ja. Nannie hat eine kleine Idee.«
Modesty Blaise saß in ihrem Schlafzimmer vor dem Toilettentisch und feilte sorgfältig ihre Fingernägel.
Nach dem Graben im Schutt des Hotels hatten sie das auch bitter nötig. Die Vorhänge waren zurückgezogen, und die Sterne strahlten am dunklen Nachthimmel. Ein großes Fenster wies über das Meer in Richtung Spanien, und die Flügel des Balkons sorgten dafür, dass nicht eingesehen werden konnte. Die Nacht war mild, und sie hatte nach dem Bad nichts angezogen. Ihr schwarzes glänzendes Haar fiel offen auf die Schultern.
Das sanfte Licht einer Lampe verlieh ihrem
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