Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
führte. Ein Wächter mit einer automatischen Pistole im Schulterhalfter und einer Reitpeitsche an einer Schlaufe am Handgelenk, saß dösend in einem Liegestuhl im Korridor. Im Maschinenraum saß der Zweite Maschinist an einem kleinen Tisch vor seiner Instrumententafel und blätterte in einem Pornoheft.
Es war zwei Uhr morgens. Das Schiff hatte kurz nach Mitternacht in der Nähe der St. Paul’s Bay eine Zeitlang beigedreht, um die vier Mädchen aus Malta an Bord zu nehmen, von denen drei sich unter dem Einfluß eines Schlafmittels wie Traumwandler bewegten. Die vierte war anscheinend in einem ähnlichen Zustand. Inzwischen lagen Malta und Gozo fünfundzwanzig Meilen in südöstlicher Richtung entfernt.
Die anderen Frauen und Kinder waren schon länger an Bord gewesen. Sie kamen aus der Türkei und Griechenland, Zypern, Kreta und Sizilien. Bora hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sie schon auf der Hinfahrt nach Marseille von seinen Agenten abzuholen, und nicht erst, wenn er wieder auf dem Rückweg war, denn der lange Aufenthalt in dem engen Laderaum machte die Gefangenen immer apathisch und gefügig. Das jüngste Mädchen hatte eben angefangen zu weinen, und eine Sizilianerin versuchte, sie in einer Sprache zu trösten, die das Kind nicht verstehen konnte.
Die meisten anderen lagen in tiefem Schlaf. Währenddessen pflügte die
Isparta
gleichmäßig mit einer Geschwindigkeit von neun Knoten durch die ruhige See, über der die dünne Sichel des zunehmenden Mondes hing.
Um Viertel vor drei erwachte eine der Frauen, die vor Malta an Bord gebracht worden waren, setzte sich auf, schob ihre Decke zurück und zog ihre Einkaufstasche aus Stoff zwischen den Beinen hervor, wo sie sie sicherheitshalber aufbewahrt hatte. Sie war ein großgewachsenes Mädchen mit olivfarbener Haut, einem runden Gesicht und schwarzen Haaren, die ihre Stirn umsäumten und beinahe ihre Augen verdeckten. Als sie sich die Ponyfrisur aus dem Gesicht strich und die Gummipolster ausspuckte, die in ihren Backen gesteckt hatten, sah sie völlig verändert aus, sogar im trüben Licht der 25-Watt-Lampe, die den Laderaum beleuchtete.
Das sizilianische Mädchen sah neugierig zu, wie die Frau, die mit einem Umhang und einem Rock aus dünnem schwarzem Stoff bekleidet war, sich langsam auf die Tür zu bewegte. Das kleine Kind hörte mit dem Weinen auf und fragte etwas in dem schwerfälligen griechischen Dialekt einer der ägäischen Inseln. Modesty Blaise hielt inne, blickte auf die Sizilianerin, die ihren Arm um das Kind gelegt hatte, und sprach sie leise auf italienisch an: »Halt die Kleine ruhig und paß’ auf, daß die anderen nicht aufwachen. Bald wird alles gut werden.«
Das Mädchen sah verschreckt aus und bekreuzigte sich. Modesty Blaise kniete bei der Tür. Unter dem Bündel aus Kleidungsstücken und dem Kleingepäck enthielt ihre Tasche noch viele andere Dinge. Sie nahm eine dünne Stablampe und ein winziges Lederetui heraus, in dem sich drei Dietriche befanden. Allerdings steckte der Schlüssel auf der anderen Seite im Schloß, so daß diese Sonden keinen Wert besaßen, dafür bekam sie die Spitze des Schlüssels mit einer spitzen Zange zu fassen und konnte ihn so herumdrehen. Für den Anfang war das schon sehr zufriedenstellend, denn jetzt war es nicht mehr notwendig, das Schloß mit Plastiksprengstoff gewaltsam zu öffnen, was den Wächter und unter Umständen auch den wachhabenden Maschinisten alarmiert hätte.
Sie schloß die Tür des Schotts hinter sich und sperrte sie wieder ab. Der Wächter schlief in seinem Liegestuhl. In ihrer rechten Hand hielt sie den Kongo, eine etwa einen Zoll starke Spindel aus Hartholz, deren Enden sich ein wenig verdickten. Mit dieser Waffe konnte sie aus jeder Lage zuschlagen, wobei ihre Kenntnis sämtlicher Nervenzentren es ihr erlaubte, wahlweise ein Körperglied außer Gefecht zu setzen, eine kurze Benommenheit oder tiefe Bewußtlosigkeit auszulösen. In der Linken hatte sie ein kleines Röhrchen in der Größe eines Lippenstifts. Mit Daumen und Zeigefinger schraubte sie die Kappe ab und hielt es einige Zentimeter unter die Nase des Wächters. Der langsam ausströmende Äther machte zwar kaum ein Geräusch, aber vielleicht wurde der Mann instinktiv wach. Seine Augen öffneten sich, er hob den Kopf, und sie versetzte ihm mit dem Kongo einen kräftigen Schlag hinter das Ohr. Er sank in sich zusammen, und sie bückte sich, um in der Tasche nach der Spritze und den Ampullen mit Phenobarbital zu
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