Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
würde ganz und gar nicht mehr so sein wie vorher. Er hoffte inständig, diese neue Situation bewältigen zu können.
Das vollklimatisierte Büro war geräumig und befand sich im obersten Stockwerk der Banque Populaire de Malaurak. Das große Fenster, das die eine Wand ganz ausfüllte, ging nach Norden, und von dort konnte man die Stadt und das Meer dahinter überschauen. An den Wänden hingen zwei Chagalls, ein Cocteau und eine Landschaft von Matisse.
Sieben Männer saßen im Raum verteilt, in bequemen, modernen Sesseln. Sechs davon nahmen eine entspannte Haltung ein. Der siebente war der jüngste von ihnen, ein Mann mit athletischem Körperbau, schwarzen Locken und grünen Augen, der sich auf seinem Stuhl nach vorne lehnte, ein wenig verkrampft, oder vielleicht nur gespannt oder ungeduldig. Es war Hugh Oberon, auch unter der Bezeichnung ›der Akademiker‹ bekannt.
Eine Ecke des Büros wurde von einem großen Schreibtisch eingenommen. Darauf befanden sich drei Telefone, eine kleine Konsole mit verschiedenen Knöpfen, eine goldene Füllfeder in einem Ständer und zwei dicke Aktenordner. Hinter dem Schreibtisch saß eine dunkelhaarige Frau, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, die langsam die Seiten in einem offenen Ordner umblätterte und mit sehr ruhiger, angenehmer Stimme sprach. Sie trug eine kurzärmelige weiße Bluse und einen weinroten Rock. Als einziges Schmuckstück trug sie einen nicht sehr großen antiken Anhänger aus Amethyst, der an ihrem Hals baumelte.
Oberon betrachtete sie äußerst interessiert. Er hatte sie kurz gesehen, als er vor mehreren Wochen das erste Mal hierhergekommen war. Inzwischen hatte er die allgemeine Einführung und die Grundausbildung hinter sich; deswegen war auch er zu dieser Konferenz zwischen der legendären Modesty Blaise und ihren Stellvertretern gebeten worden. Oberon war zwar durchaus neugierig, aber keinesfalls besonders respektvoll, denn es fiel ihm schwer, sich mit dem Gedanken abzufinden, daß diese ruhigen, entspannten Männer und diese ruhige, gefaßte Frau eine Organisation wie das
Netz
für so lange Zeit hatten beherrschen können.
Vielleicht waren es früher einmal harte Männer gewesen, jetzt jedoch waren sie sanft geworden. Sie hatten nicht mehr das geringste Feuer in sich. Sie waren Männer von gestern. Selbst Garvin war schon über dreißig, ein gemütlicher Mann, an dem kein Funken dieser wilden Machtgier zu bemerken war, die man einfach haben mußte, wenn man es wirklich zu etwas Großem bringen wollte. Oberon war sich ziemlich sicher, daß er im Nahkampftraining vor zwei Tagen mühelos gewonnen hätte, wenn es Garvin nicht gelungen wäre, mit viel Glück einen Konterschlag gegen seinen
Shotei
-Angriff anzubringen. Und was die übrigen anging …
Oberon blickte sich beiläufig im Raum um. Da war Garcia, der offensichtlich schon weit über fünfzig war und langsam Fett ansetzte. Sein Bereich waren die allgemeine Verwaltung und die Verkäufe von Edelmetallen und Edelsteinen. Neben ihm saß Krolli, ein dunkelhäutiger Grieche, der Leiter der Einsatztruppe, deren wichtigste Aufgabe der Schutz der Organisation vor rivalisierenden Banden war. Lensk, ein dicklicher Typ mit verschlafenen braunen Augen, war der Chef der Abteilung für internationale Nachrichtendienste und Industriespionage.
Der Mann, der dem Akademiker am nächsten saß, berührte mit seinen Füßen kaum den Boden. Das war Wee Jock Miller, ein Produkt der Slums von Glasgow, soviel hatte Oberon jedenfalls erfahren. Miller war nur etwa ein Meter sechzig groß und sah fast ebenso breit aus. In seinem Gesicht verlief eine lange, dünne Narbe, wie von einem Rasiermesser, und er hatte ein Glasauge. Sein Aufgabengebiet waren sämtliche Transportmittel der Organisation, ob zu Lande, zu Wasser oder in der Luft. Der Mann rechts von ihm war Braun, der aschblonde Deutsche, der für die Nachrichtenübermittlung des
Netzes
sowie für die technische Ausrüstung und die Handfeuerwaffen zuständig war. Er und Miller gingen beide auf die Vierzig zu, schätzte Oberon. Sie alle hier waren zu alt, zu verbraucht. Schließlich war es eine Welt für junge Männer.
Die Frau selbst, die seiner Schätzung nach etwa in seinem Alter war, blieb ihm immer noch ein Rätsel.
Wenn nur die Hälfte der Geschichten über sie stimmten, dann mußte sie früher einmal eine unglaubliche Teufelskatze gewesen sein, aber jetzt konnte er keine Spur davon an ihr entdecken. Sie war weich geworden, genau wie die anderen, entschied er
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