Modesty Blaise 12: Die Lady läßt es blitzen
Zwieback und eine Kanne Tee.
Seine Augen waren geöffnet, aber sein Blick ging ins Leere, und es war ihm gleichgültig, daß der Tee langsam kalt wurde. Sein Empfindungsvermögen war schon lange abgestorben, und er reagierte kaum mehr auf irgendwelche Reize.
Er hätte in diesem Augenblick, wenn es nötig gewesen wäre, Konversation machen, diskutieren oder streiten und dabei die gütige und wichtigtuerische Fassade, die er nach außen hin zeigte, beibehalten können, während sein Innerstes weiterhin ungestört in abgrundtiefen Widerwärtigkeiten schwelgte. Thaddeus Pilgrim war früher ein demütiger Diener Gottes gewesen, ein eifriger Missionar, der sich unter Einbeziehung seiner Familie der Aufgabe widmete, die Worte der Bibel zu verbreiten. Dann kam jener Tag in Uganda, an dem die Eingeborenen, für die er so hart und voller Liebe gearbeitet hatte, Messer in die Hände nahmen und seine Frau und seine Kinder zerstückelten. Als der Schock nach einigen Wochen nachließ, hatte ein anderes Wesen von der menschlichen Hülle Besitz ergriffen, die einst Thaddeus Pilgrim gewesen war. Nun verfolgte der Mann mit den von Kummer gezeichneten Augen den Gott, der ihn betrogen hatte und an den er nicht mehr länger glaubte, mit mörderischem Haß. Es kam ihm dabei nicht zu Bewußtsein, daß ein solcher Haß irreal und unlogisch war.
Einige Jahre lang blieb Thaddeus Pilgrim aus der ihm vertrauten Umwelt verschwunden. Die wenigen Menschen, die sich noch an ihn erinnerten, glaubten, er lebe zurückgezogen im Ausland. Während dieser Jahre war es sein Bestreben, an dem nicht existierenden Gott Rache zu üben, indem er sich dem Teufel zuwandte. In Europa, Asien, Nordamerika und Westindien widmete er sich voller Leidenschaft den Widerlichkeiten der schwarzen Magie und verehrte den Herren des Bösen in den verschiedensten, scheußlichsten Varianten. Letzten Endes fand er darin aber keine Befriedigung, da er sich sowohl seines Glaubens an Gott als auch an Satan beraubt sah und in eine Art Vakuum fiel. Sein Geist löste sich von seinen Empfindungen, und seine Seele starb in ihm ab.
Das einzige Verlangen, das in der äußeren Hülle Thaddeus Pilgrims übriggeblieben war, bestand schon seit langem nur mehr darin, seinem nicht existenten Gott und Satan, die beide gleichermaßen grausam waren, nachzueifern, indem er menschliche Marionetten manipulierte und die unglücklichen Kreaturen zwang, seinen Launen entsprechend zu handeln. Er hatte eine klare Vorstellung von der Macht des Bösen, was ihm dabei geholfen hatte, die Kerntruppe der Herberge der Rechtschaffenheit aufzubauen. Die Kontrolle, die er über diese Menschen ausübte, stammte aus einer inneren Kraft, die sich nicht erklären ließ, die aber eine natürliche Folge seiner Wandlung war und der Mittel, deren er sich dazu bedient hatte.
Sibyl Pray und Kazim, die ihm beide physisch weit überlegen waren, fürchteten ihn mit jener Art von Angst, die stark mit Vergnügen gepaart ist, jenem wonnigen Schauder, der die Leute veranlaßt, Horrorfilme oder Grand Guignol zu sehen. Mit Mrs. Ram war es ähnlich: Sie erschauderte bei seinem Anblick und genoß die damit verbundenen masochistischen Freuden.
Dr. Tyl hatte echte Angst vor ihm, ohne den Grund aus psychologischer Sicht erklären zu können, was für einen Mann seines Berufsstandes zusätzlich beunruhigend war. Thaddeus Pilgrim war sich der Angst bewußt, die er allen einflößte. Er empfand dabei aber kein Vergnügen, da ihm solche Gefühle längst fremd waren. Für ihn bedeutete es nur ein nützliches Phänomen von geringem Interesse.
Es klopfte an die Tür des Arbeitszimmers. Der dünne Faden, der Thaddeus Pilgrims Geist und die Hülle aus Fleisch, Blut und Knochen am Schreibtisch zusammenhielt, holte sein innerstes Wesen aus der gräßlichen Vergangenheit, in der es geschwelgt hatte, zurück in die Wirklichkeit. Seine Augen wurden wieder klar, und er rief: »Kommen Sie bitte herein, kommen Sie herein.«
Als Mrs. Ram und Dr. Tyl eintraten, lachte er ihnen entgegen, bat sie, sich zu setzen, und nahm dann wieder seine Tasse mit kaltem Tee, um daran zu nippen.
»Nun, Mrs. Ram, das ist für uns der richtige Zeitpunkt, um den Fortgang unserer verschiedenen kleinen Szenarien unter die Lupe zu nehmen, nicht wahr? Ein Augenblick, dem ich, wie ich zugeben muß, jede Woche mit – äh – ungebrochenem Interesse entgegensehe Ihre Berichte sind Beispiele der Effizienz, liebe Dame, Beispiele der Effizienz.«
»Danke, Dr. Pilgrim.«
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