Mörder im Chat - Ostsee-Krimi : (Aus Rostock)
Trainingsanzug als Sportlehrer zu identifizieren war, fragte, ob er helfen könne. Uplegger war ein wenig irritiert, hatte er doch gehofft, sich im Lehrerzimmer still in eine Ecke setzen und auf Kerstin Lindner warten zu können, aber natürlich war man in Schulen gegen jeden Fremden misstrauisch, spätestens seitdem es zu Vergewaltigungen auf Schultoiletten gekommen war. Er musste sich ausweisen, woraufhin der Lehrer einladend in den Raum wies und ihm einen Kaffee anbot. Die Geste nahm er an, den Kaffee nicht.
Während er wartete, dachte er an das Gespräch mit Lenas Eltern zurück. Mobbing am Gymnasium hatte es nach ihren Aussagen nicht gegeben, aber in der Grundschule hatte es sich Lena gefallen lassen müssen, dass manche sie Rotkäppchen oder Pippi Langstrumpf nannten, was Uplegger nicht als bösartig empfinden konnte – beides waren doch positive Figuren. Die kleine Lena hatte es wohl auch nicht übel genommen …
Die Tür wurde geöffnet, Upleggers Herz machte einen Sprung. Aber es war nicht Frau Lindner, die eintrat, sondern eine ältere Lehrerin. Aus irgendeinem Instinkt tippte er auf Mathe und Physik.
Im Kolumbusring hatte die Familie Schultz von 1987 bis 2010 gewohnt, eine beachtliche Lebensspanne, die Uplegger überlegen ließ, wann er mit Frau und Sohn an den Puschkinplatz gezogen war. Vor acht Jahren? Vor neun? Neun, es waren neun Jahre, also mit der Beharrlichkeit der Schultzens nicht zu vergleichen. Vermutlich wären sie noch immer in Schmarl, wenn sie das Haus in Dierkow nicht quasi geerbt hätten. Ihr Großvater väterlicherseits hatte zu DDR-Zeiten den VEB Schiffsausrüstungen geleitet, der nach der Wende in eine GmbH umgewandelt worden war und immerhin noch bis zur nächsten Wende existiert hatte: der Jahrtausendwende. Dann war er der Schiffbaukrise zum Opfer gefallen. Lenas Großvater, ausgebildeter Ökonom, hatte mit seinem Sohn eine Steuerberatungskanzlei gegründet, war 2010 ausgestiegen und hatte sich zur Ruhe gesetzt, in einem – so Barbara – germanisierten Rentnerparadies an der Costa del Sol. Das Haus hatte sein Sohn übernommen, und es wäre auch Platz für Lena gewesen, die es aber vorgezogen hatte, sich auf eigene Beine zu stellen.
Wieder ging die Tür, wieder war es nicht Frau Lindner, sondern dieses Mal ein Lehrer, der einen weißen Kittel trug: Chemie oder Bio? Oder nur Kreideschutz?
Upleggers Gedanken kehrten in die Schmarler Zeit zurück, zum Kolumbusring 54. Genauer gesagt, vor die Nummer 54. Ungefähr als Lena 14, 15 gewesen war, vielleicht auch 16, hatte sich im Eingangsbereich eine Truppe Jugendlicher getroffen, die man in der Fachliteratur als Peergroup bezeichnen würde – Herr Schultz hatte Horde gesagt. Der Zweck dieser Treffen bestand im Abhängen, im Abchillen – oder wie immer man das seinerzeit genannt hatte. Und diese Jugendlichen waren manchmal über Lena hergefallen, nicht mit körperlicher Gewalt, aber mit herabwürdigenden und ironischen Bemerkungen. An Details konnten sich die Eltern nicht erinnern; nur dass Lena ein männlicher Vorname verpasst worden war, Lennox, wussten sie noch. Seither war ihre Stimme noch tiefer geworden.
Ein Gong ertönte. Upleggers Herzklopfen verstärkte sich wieder, denn das schien ein Pausenzeichen zu sein. Ob nun endlich Kerstin Lindner im Lehrerzimmer erscheinen würde?
Zwei Lehrerinnen verließen den Raum, Uplegger wandte sich an den Sportlehrer: »Große Pause?« Der schüttelte den Kopf.
Etwas war Uplegger aufgefallen, was er mit der Dampframme noch nicht ausgewertet hatte. Von Lenas älterer Schwester war wenig gesprochen worden, dabei mussten die Eltern doch stolz auf sie sein, immerhin hatte sie einen Stammhalter zur Welt gebracht. Und auch der Mann, der Amerikaner, war nur selten erwähnt worden, sozusagen: wenn es gar nicht anders ging. Stimmte da etwas nicht im Verhältnis der Eltern zu Tochter und Schwiegersohn oder hörte er nur die Flöhe husten?
Nach vierzig Minuten bekam Uplegger die Liste, die er wollte. Kerstin Lindner war nicht im Lehrerzimmer erschienen, aber dafür hatte er von Lorbass Lutze einen Anruf erhalten, der es in sich hatte. Sofort machte er sich auf den Weg.
Dass im Hochhaus der WBG Waterkant sieben vorbestrafte Personen lebten, fand Barbara beachtlich. Zwei davon hatten allerdings nur ein geringes Delikt auf dem Kerbholz: Daniel Morbacher und ein gewisser Henning Scholz, den man wegen Leistungserschleichung verknackt hatte, zu deutsch: wegen Schwarzfahrens. Das Vergehen von Scholz lag
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