Mörder im Chat - Ostsee-Krimi : (Aus Rostock)
Archäologischen Landesmuseums Gottorf eingegangen war. Wenige Tage später fand sich in der Nähe ein männlicher Toter, der anscheinend mit Haselruten erdrosselt worden war. Sofort waren Spekulationen ins Kraut geschossen, von bestraftem Ehebruch war die Rede gewesen. Inzwischen stand sicher fest, dass es sich beim Mädchen von Windeby um einen Jungen handelte, der höchstwahrscheinlich an einer schweren Zahnentzündung gestorben war.
Gasser füllte noch einmal seinen Pott und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Erst klopfte er auf den Stapel Belegexemplare, dann setzte er sich und schlug die Mappe auf. Zwischen Diestelkamp und Domsland-Siedlung erstreckte sich ein Naturschutzgebiet, das den eigenartigen Namen Obstbaumwiese trug, obwohl es aus einem nahezu undurchdringlichen Feuchtbiotop mit mehreren kleinen Seen bestand. Zwei jugendliche Aktivisten des Naturschutzbunds Deutschland waren dort unterwegs gewesen, um Bodenproben zu nehmen, hatten in 63 cm Tiefe den Kopf entdeckt und vernünftigerweise die Polizei gerufen.
Der Schädel war bräunlich verfärbt, bis auf je einen Mahlzahn unten links und oben rechts vollkommen zahnlos, und es fehlten jegliche Weichteile oder Haare; so schien es jedenfalls auf den ersten Blick. Dem Anschein nach hätte es eine Moorleiche sein können, also hatten die Kollegen das Landesmuseum um Hilfe gebeten. Die erfahrene Anthropologin aus Gottdorf wollte sich jedoch nicht festlegen, ob es sich um einen Fund aus der Frühzeit handelte oder nicht. Ein Gerichtsmediziner stellte fest, dass der Schädel mit scharfen Schnitten oder Hieben vom Rumpf getrennt worden war. Obwohl die Umgebung zwei Tage lang durchsucht wurde, tauchte dieser Rumpf nicht auf.
Das erinnerte Gasser an einen weiteren Moorleichenfund unweit von Eckernförde. Am 26. Mai 1948 beim Torfstechen im Köhlmoor war südwestlich des Ortes Osterby ein Männerschädel entdeckt worden, in einer Tiefe von 65 bis 70 cm. Ein Landwirt meldete den Fund dem Schleswiger Museum, das trotz intensiver Suche keine weiteren Leichenteile fand. Allein der Schädel war hier ins Moor geraten – geworfen oder versenkt worden –, nachdem er mit einem scharfen Hieb in Höhe des zweiten Halswirbels abgetrennt worden war.
Gasser leerte seine Tasse. Seit Jahren war die Zahl der Moorleichenfunde zurückgegangen, aber ihm war sofort ein Fall der Kripo Nienburg eingefallen, als er von dem aktuellen Fund gehört hatte. Im Dezember 1969 war die 16-jährige Elke Kerll nach einem Besuch der Diskothek Schauburg verschwunden. Gasser bekam eine Gänsehaut, wenn er an diesen Fall dachte. Kriminalistischer Pfusch, geboren aus Vorurteilen gegen Mädchen, die Diskotheken besuchten und sich mit Jungen »herumtrieben«, hatte dazu geführt, das möglicherweise entscheidende Spuren nicht verfolgt wurden, aber man schrieb schließlich das Jahr 1969! Dann, im September 2000, fand ein Torfstecher im Uchter Moor menschliche Überreste: Beinknochen, Wirbel, Schädelteile. Eine gerichtsmedizinische Untersuchung ließ es möglich erscheinen, dass es sich bei den Funden um die Knochen der Vermissten handeln könnte, doch eine DNA-Untersuchung in Göttingen, die sage und schreibe drei Jahre dauerte, machte die Hoffnung zunichte. Fünf Jahre später bescherte der Fund einer abgetrennten Hand derselben Leiche an gleicher Stelle der Archäologie zwar Gewissheit, die zweitälteste Moorleiche Deutschlands gesichert zu haben, doch der Fall Elke Kerll blieb offen.
Diesmal war das Gutachten der Rechtsmedizin glücklicherweise eindeutig: Mit einer Moorleiche hatte man es nicht zu tun. Für Gasser genügte schon die Feststellung, dass einer der Molaren eine Amalgamfüllung aufwies. Die Kieler hatten noch mehr gefunden: Im Schädel war das Gehirn fast vollständig erhalten, und so konnten sie all ihre Technik ins Feld führen: Computertomographie und Radiometrie, DNA-, Drogen- und Isotopenanalyse. Die Zusammenfassung war ziemlich aussagekräftig: weibliche Person, 18 bis 25 Jahre alt, Liegezeit im Bereich Obstbaumwiese zwei bis vier Wochen, Todeszeit vor etwa ein bis zwei Monaten. Die Braunfärbung des Schädels war auf längeres Räuchern zurückzuführen.
Mit erbarmungsloser Logik ergab sich aus dem Fund eines per Schnitt oder Hieb abgetrennten Schädels, dass Gewalt von fremder Hand gewirkt hatte. Ein Suizid war auszuschließen. Mordfälle mit abgetrennten Gliedmaßen oder Schädeln waren nicht häufig, aber sie kamen auch nicht so selten vor, dass sie erfahrene
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