Moerder Im Gespensterwald
Auf den ersten Blick sagten ihr diese Nummern nichts, allerdings erkannte sie, dass die Festnetznummer mit der Rostocker Vorwahl begann.
»Kranbauers Handynummer muss in dem dritten Brief gestanden haben«, überlegte sie laut. »Wetterstrom hat Kontakt aufgenommen, aber wir werden vielleicht nie erfahren, warum. Wollte er die Münzen für sich? Oder hat ihm Kranbauer sogar eine gemeinsame Schatzsuche angeboten? Fragt sich nur, wann sie sich treffen wollten. Wetterstroms und Gundersens hatten feste Reisepläne …«
»Auch wenn die Auswertung in Ihr Fach fällt«, sagte Warzecha, »möchte ich doch etwas zu bedenken geben.«
»Und was, bitte?«
»Kranbauer hat die vier letzten Anrufe empfangen, als Wetterstroms schon tot waren.«
***
Hinter ihnen lag die fluchbeladene Kleinstadt Grevesmühlen, vor ihnen das graue Band der A 20. Barbara fuhr. Sie hatte ihren Kollegen nach dem Verhör von Kranbauer erschöpft gefunden und sich erboten, den Wagen zu lenken, denn sie fühlte sich beschwingt – und das ohne Alkohol. Statt an Bier und Wodka berauschte sie sich an der Geschwindigkeit. Immerhin war der Dienstwagen ein Mercedes, ein Auto mit eingebauter Vorfahrt, das die rechte Fahrspur gar nicht kannte.
Uplegger protestierte nicht. Er schlief.
Kranbauers Start-up O.K. Med Solutions mochte Software für eine Boombranche entwickeln, die Firma selbst boomte nicht. Anfangs hatte es ganz gut ausgesehen, weil alle Beteiligten, wenn man Zukunftsmarkt Gesundheit sagte, sofort die rosarote Brille aufsetzten. Überall wurde hemmungslos geforscht, um die Jungen jünger, die Gesunden gesünder und die Kranken möglichst lange krank zu erhalten – dafür brauchte man nicht nur Pillen, sondern auch Pillendrehbänke, man brauchte Technik, immer mehr Technik, und diese Technik brauchte Software. So weit, so gut. Der Mensch sei des Menschen Wolf, hieß es, und Barbara war geneigt, sofort zu unterschreiben. Aber nicht so sehr die Existenz anderer Menschen war das Problem, obwohl das schon schlimm genug war, sondern dass die anderen auch Ideen hatten, ähnliche Ideen: Es gab Konkurrenz, und nicht zu knapp. Zwei Jahre nach der gefeierten Gründung seines Start-ups musste Kranbauer seine drei Mitarbeiter in den unbezahlten Urlaub schicken. Aber das nützte ihm so wenig wie die immer exzessivere Selbstausbeutung, weil ihm vor allem eines fehlte: Kapital.
Ihm hätten fürs Erste 50 000 Euro gereicht. Aber er hatte keine Sicherheiten mehr, alles war schon verpfändet, und selbst seine Ideen waren, weil man auf ähnliche ebenfalls gewettet hatte, nichts mehr wert. Vielleicht hätte der Jungunternehmer ans Aufgeben denken sollen, aber er hatte sich Erfolg versprochen, also musste dieser Erfolg auch her: Scheitern war verpönt, noch immer, obwohl inzwischen Staaten scheiterten und Staatengemeinschaften. Oliver Kranbauer hatte mit einer womöglich guten Idee und viel Elan begonnen. Am Ende war er ein Zwangsneurotiker.
Barbara fuhr etwas langsamer, weil sie Mühe hatte, die Hinweisschilder zu erkennen, und dann folgte sie sogar dem Gebot der Vernunft und wechselte die Spur. Viel dringender als eine Alkoholtherapie brauchte sie endlich eine Brille.
Uplegger murmelte vor sich hin. Im Schlaf sah er wie ein großer Junge aus. Nicht nur im Schlaf; bei einem bestimmten Blickwinkel und entsprechender Beleuchtung ging er noch als Endzwanziger durch. Barbara, von Neid befallen, korrigierte sich: Mittdreißiger. Dabei wurde er im Herbst 40, was sie freute.
Kranbauer musste verzweifelt gewesen sein, und da spielte ihm das Schicksal plötzlich einen goldenen Ball vor die Füße. Sein Vater hatte tatsächlich Schwierigkeiten mit seinem PC gehabt, Oliver hatte ihn sich angeschaut, aber in der Grevesmühlener Wohnung und bereits am Montagabend, mithin drei Tage vor der Hanse Sail . Das Problem war so banal gewesen, dass man es fast nicht glauben mochte: Das Netzkabel hatte sich gelöst. Nach zwei, drei Minuten war es behoben.
Doch er veranstaltete eine Riesenshow, tat so, als müsse er eine größere Neuinstallation vornehmen, und schaute sich derweil die Dateien an. Die Verzeichnisse, Unterverzeichnisse und Ordner hatte er selbst für seinen damit überforderten Vater angelegt, und einer der Order hieß Finanzen .
Diesen vor allem nahm er ins Visier.
Kurz vor der Abfahrt Bad Doberan kam Jonas zu sich, ganz zerknittert und mit einem fragenden Gesichtsausdruck. Er streckte sich, gähnte und rieb sich die Augen, dann entdeckte er die Tafel und
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