Mörder im Zug
Die Möwen lachten darüber, die Lachmöwen jedenfalls, und stolzierten nach wie vor wie Nutten auf ihren hochhackigen Schuhen über Straßen und Strand, Ausschau haltend nach Fischbrötchen verzehrenden Touristen.
Zwischen einem Eiscafé und einer bereits hell erleuchteten Bäckerei entdeckte Barbara die Boutique La Moda von Lukrecija Medanauskas. Deren Schaufenster wurden von herabgedimmten Strahlern erhellt. »La Moda«, sagte Barbara zu Uplegger, »das ist sicher auch italienisch. Nein, sagen Sie nichts – das heißt bestimmt Die Mode .«
»Bingo!«
Tatsächlich war La Moda jedoch kein reines Modegeschäft, sondern es wurde auch der übliche touristische Schnickschnack offeriert, Plastikleuchttürme, aus Muscheln gefertigte Reliefs vom Leuchtturm und dem Restaurant Teepott , Buddelschiffe, Postkarten, Kugelschreiber mit dem Leuchtturm, Schlüsselanhänger, auch mit dem Leuchtturm …
Plötzlich schoss Barbara ein Gedanke durch den Kopf: »Andriejus hatte den Ersatzschlüssel seines Wagens in diesem Flechtkorb in der Küche deponiert.«
»Weil nur er einen VW fährt, meinen Sie?«
»Ja.«
»Und was ist daran ungewöhnlich?«
»Nichts. Ist bloß eine Feststellung.« Barbaras Aufmerksamkeit wurde von einer Damenhandtasche gefesselt, die aus einem Krokodillederimitat hergestellt worden war, einen goldfarbenen Verschluss aufwies und auch über die Schulter gehängt werden konnte, wie sie es liebte. Nicht dass ihre zehn Jahre alte Handtasche es nicht noch ein weiteres Jahrzehnt machen würde – Barbara pflegte Kleider und Accessoires erst dann auszurangieren, wenn sie in Auflösung übergingen. Aber chic war diese Tasche schon, allerdings über hundert Euro chic.
»Das sind ja Preise!« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wusste gar nicht, dass auch Letten vom Italienvirus befallen sind.«
»Na ja, sie betreiben immerhin zwei italienische Restaurants.«
»Glauben Sie denn, die sturen Mecklenburger würden in lettische Lokale gehen? Wat de Buer nich kennt, dat frett hei nich.
Während man irgendwas Italienisches mittlerweile in jedem Supermarkt hinterhergeworfen bekommt – daran konnte der Bauer sich 20 Jahre lang gewöhnen. In meinem gibt’s sogar ein Antipasti-Regal.« Barbara betrachtete noch einmal die Tasche und verwarf sie als zu mondän.
»Da wir grade bei Italien sind …«
»Schon wieder.«
»Da wir schon wieder bei Italien sind: Mir ist noch eine berühmte Lucrezia eingefallen. Lucrezia Borgia, die Giftmischerin.«
»Mein lieber Kollege Uplegger!« Barbara machte sich ein paar Zentimeter größer. »Das ist wieder eines von diesen typisch männlichen Klischees. Lucrezia Borgia hat nie – ich betone: nie – auch nur einen einzigen Giftmord begangen.«
»Schreibt das die Ostsee-Zeitung?« Uplegger unterdrückte ein Schmunzeln. Barbara würdigte ihn keiner Antwort. Schon als Schülerin hatte sie sich für Geschichte interessiert und fast wahllos alles gelesen, was mit der Vergangenheit zu tun hatte. Mittlerweile beschränkte sie sich auf die Lektüre von Biografien, und hier wiederum galt ihr Interesse den Biografien unglücklicher Frauen.
Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Sie überquerten die Brücke über den Strom, von deren Balustrade Möwen kreischend davonflogen. In den Bahnhof Warnemünde rollte gerade ein Zug aus drei roten Doppelstockwagen ein. Barbara kniff die Augen zusammen, um die Leuchtanzeige am Steuerwagen erkennen zu können; schon seit langem befürchtete sie, eine Brille zu benötigen, aber sie zögerte den Besuch beim Augenarzt immer wieder hinaus.
Bei dem Zug handelte es sich um die S 3, eine frühe Stadtbahn aus Güstrow, vielleicht sogar die erste des Tages.
Nach Andriejus’ Passat mussten Uplegger und Barbara nicht lange suchen. Er fiel auf dem Parkplatz Mittelmole nicht weit von der Einfahrt entfernt sofort ins Auge, weil zwei Männer von der Spurensicherung an ihm arbeiteten. Sie trugen keine Overalls, sondern nur Gummihandschuhe, weil es sich um eine erste Inaugenscheinnahme handelte; das Auto würde in der Werkstatt der Spusi gründlich untersucht werden. Der Abschleppwagen war bereits da.
Alle Türen standen offen, auch der Kofferraum war geöffnet. Mit routinierten Bewegungen und ebensolchem Blick durchforsteten die Kriminaltechniker den Passat. Sie betasteten den Boden, hoben die Fußmatten an, schauten in den Aschenbecher und das Handschuhfach. Als sie die Neuankömmlinge bemerkten, nickten sie. Einer der beiden steckte den Kopf sofort wieder auf der
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