Mörderische Ärzte: der hippokratische Verrat
nahm Tardieu zusammen mit seinem Assistenten Roussin die Obduktion vor. Sie konnten keine äußeren Verletzungen feststellen. Die inneren Organe wiesen keine krankhaften Erscheinungen auf, die den plötzlichen Tod erklärt hätten. Seinem Auftrag gemäß entnahm Tardieu der Leiche alle Organe, die für eine Giftuntersuchung notwendig waren.
Am nächsten Tag begannen Tardieu und Roussin mit den toxikologischen Analysen. Aber vorerst blieben alle Tests für den Nachweis von Schwer- und Leichtmetallen ergebnislos. Rein Arsen, kein Quecksilber, kein Blei, kein Antimon. Auch für eine Kohlenoxid-Vergiftung gab es keinen Hinweis. So blieb nur noch die Hoffnung, auf ein Pflanzengift zu stoßen. Es jedoch nachzuweisen, war damals noch schwierig, in manchen Fällen sogar unmöglich.
Polizeichef Claude, beunruhigt über das negative Ergebnis der toxikologischen Untersuchung, entschloss sich, auch ohne einen solchen Beweis Pommerais zu verhaften.
Zugleich ließ Claude die Praxisräume des homöopathischen Arztes durchsuchen. Dabei förderte man einen außergewöhnlichen Vorrat von Substanzen zutage, die - je nach Dosierung oder Verdünnung - als Gift oder als Medikament wirkten. Da gab es Arsenik neben Zyankali, aber auch Pflanzenalkaloide wie Strychnin, Atropin, Digitalis.
Claude ließ alle beschlagnahmten Substanzen Tardieu übergeben. Er hoffte, ihm damit vielleicht einen Anhaltspunkt für seine weiteren Tests zu liefern. Denn der Giftvorrat des Arztes legte die Vermutung nahe, das von ihm verwendete Gift könnte daraus stammen. Aber diese Hoffnung trog. Tardieu stellte aus den Organen der Toten einen Extrakt her, den er mit den entsprechenden Reagenzien auf typische Farbreaktionen überprüfte.
Damals war die Forschung bereits so weit fortgeschritten, dass man Pflanzenalkaloide, die mit bestimmten Reagenzien behandelt wurden, an charakteristischen Färbungen vom Purpurrot bis zum Smaragdgrün erkennen konnte. Auf diese Weise Schloss Tardieu aus, dass Mme. de Pauw mit Morphium, mit Atropin, mit Strychnin oder Nikotin vergiftet worden war. Er war der Verzweiflung nahe. Dass Mme. de Pauw vergiftet worden war, stand für ihn fest. Das bewies der bittere Geschmack der Organextrakte.
Es musste einen Ausweg aus der Sackgasse geben, einen neuen Weg, den noch niemand kannte. Tardieu vertiefte sich in die Forschungen von Dr. Stas, einem belgischen Wissenschaftler, der vor mehr als einem Jahrzehnt in einem mit Nikotin vergifteten Körper das Gift entdeckt und damit als erster Pflanzengift in einer Leiche nachgewiesen hatte. Stas hatte damals die Wirkung von Pflanzengiften, die er in Leichen gefunden hatte, dadurch überprüft, dass er den Extrakt in einen tierischen Organismus injizierte.
Tardieu dachte über diese Methode nach und hatte einen ebenso einfachen wie genialen Einfall. Diese Methode von Stas müsste doch auch umkehrbar sein: dienlich nicht zur Bestätigung eines bereits erkannten Giftes, sondern brauchbar, um aus den Wirkungen auf den tierischen Organismus ein noch unbekanntes Gift zu identifizieren.
Von diesem Augenblick an traten zwei Intelligenzen miteinander in ein tödliches Duell. Der mörderische Arzt hatte ein bisher noch nicht nachweisbares Pflanzengift für einen perfekten Mord benutzt, der Gerichtsmediziner suchte es zu entdecken und den Täter zu überführen.
Tardieu, auf den Tests von Stas aufbauend, entwickelte nun das »physiologische Experiment«, eine bahnbrechende Methode, um ein noch nicht nachweisbares Gift zu bestimmen. Dabei wird der Organextrakt eines vermutlich vergifteten Menschen - wie es Tardieu formulierte - »direkt in den Blutstrom« eines geeigneten Tieres gebracht und aus dessen Reaktionen auf das Gift geschlossen.
Das erste Experiment ergab nur einen teilweisen Erfolg. Tardieu injizierte einem kräftigen Hund ein Drittel des aus den Organen der Toten gewonnenen Extrakts. Nach einiger Zeit erbrach der Hund. Bald konnte er sich nicht mehr aufrecht halten, der Herzschlag verlangsamte sich beträchtlich und erhöhte sich dann rapid. Nach zwölf Stunden normalisierte sich der Zustand des Tieres allmählich.
Tardieu verspürte einen ersten Triumph. Der Hund hatte die gleichen Symptome gezeigt wie Mme. de Pauw. Allerdings hatte er den Versuch überlebt, weil Tardieu eine zu geringe Menge des an sich schon schwachen Extrakts injiziert hatte. Auf jeden Fall aber war Tardieu der Auffindung des Giftes näher gekommen. Seine Auswirkung auf die Herztätigkeit des Hundes bewies, dass es sich
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