Mörderische Ärzte: der hippokratische Verrat
keine Entlastung zu erwarten, Borroto widersprach der Behauptung des Angeklagten, er hätte ihn gebeten, das Sterben seiner Frau zu verkürzen. Allerdings betonte er, dass sich der Doktor aufopfernd um seine Frau gekümmert und ihr immer wieder Mut zugesprochen habe.
Schließlich kam als Zeuge der Anklage noch der Chefpathologe Dr. Miller zu Wort. Er hatte die Tote obduziert. Dr. Miller sollte die Auswirkung von Luftinjektionen erklären. Er sagte, eine Luftinjektion verhindere, dass das Blut vom Herzen zur Lunge fließt. Es gebe verschiedene Arten der Luftembolie, je nachdem, ob Luft in die Arterien oder in die Venen gelangte. Gerät Luft in Form von Blutschaum in die rechte Herzkammer, schlägt das Herz leer. Es kommt dabei zu plötzlichem Herzstillstand. Man kenne aber auch eine verzögerte Luftembolie, die nicht innerhalb von Minuten zum Tode führt. Entscheidend sei auch, wie viel und in welcher Zeit Luft injiziert wird. Als tödlich gelte eine intravenöse Injektion von 70 bis 130 Kubikzentimeter. Dann bestätigte Dr. Miller, die Todesursache von Mrs. Borroto sei eine Luftembolie gewesen.
Der Verteidiger wies den Chefpathologen daraufhin, dass Dr. Snay bereits vor der Injektion keinen Herzschlag mehr gehört hätte. Daraus sei doch zu schließen, dass die Luft einer bereits Toten injiziert worden sei.
Nach dieser Frage kam es zu einem Disput zwischen dem Verteidiger und dem Pathologen. »Was heißt überhaupt Tod?« so fragte der Verteidiger, »wann ist er eingetreten? Leben einige Organe und Zellen noch eine Weile weiter? Wann hört das Leben endgültig auf?«
»Tod ist gleichbedeutend mit dem Aufhören aller vitalen
Aktivitäten.«
»Gibt es nicht einige individuelle Gewebe, wie z. B. den Herzmuskel, die Muskeln an den Eingeweiden, die Skelettmuskeln und die Spermatozoen, die noch einige Stunden nach dem Tode Lebenszeichen von sich geben?«
»Sie mögen noch Zeichen individuellen Zellenlebens von sich geben, das Individuum, die Gesamtpersönlichkeit hat aber kein Leben mehr.«
»Gibt es nach dem, was Sie als Tod bezeichnen, nicht manchmal noch einen Ausstoß von Luft, sei es durch den Mund, sei es durch den After?«
»Das gibt es allerdings manchmal.«
Dr. Miller erklärte dann weiter, der Puls könne minutenlang stilliegen, ohne dass damit der Tod des betreffenden Menschen bewiesen sei.
Zu Anfang des Prozesses hatte sich Dr. Sander als nicht schuldig bekannt. Aber die Vernehmung der Zeugen der Anklage war niederschmetternd für ihn. Es schien bewiesen, dass er die Patientin bewusst durch Luftinjektionen getötet hatte.
Sanders Verteidiger Wyman war sich der hoffnungslosen Lage seines Mandanten bewusst. Das Verbrechen, dessen er angeklagt wurde, erregte - ausgenommen vielleicht die Problematik der Abtreibung - wie kein anderes die Öffentlichkeit. Pro und Contra standen sich unversöhnlich gegenüber.
Wie bei allen Fragen, bei denen es um Tod und Leben geht, waren die Antworten emotional gefärbt und affektiv angeheizt. Mit dem Hippokratischen Eid, der fordert, der Arzt solle niemandem, auch sollte er darum gebeten werden, ein tödliches Mittel verabreichen, ist dem Arzt, der dieses Gebot ernst nimmt, eine unübersteigbare Grenze gesetzt. Dr. Sander hatte sie missachtet, aus einem für jedermann verständlichen Gefühl heraus, aus Mitleid, das jedoch für einen Arzt nicht gelten soll. Und hier setzt folgerichtig die Frage nach der ehernen Gültigkeit dieses ethischen Prinzips von Hippokrates ein: Darf ein Arzt seinem Mitleid folgen und einen unheilbar Kranken, der vor dem nahen Tod steht, vorzeitig von seinen Schmerzen befreien? Selbst wenn dieser ihn darum bittet?
Mit einer solchen Entscheidung hängen ungeahnte ethische, juristische, medizinische, religiöse, politische Probleme zusammen. Im Fall Dr. Sander waren die Gegner einer ärztlichen Sterbehilfe in Manchester besonders aktiv und putschten die Stimmung gegen den Arzt auf. Deshalb erschien es Anwalt Wyman zu riskant, für seinen Mandanten das Recht auf Mitleid einzufordern, zumal nicht einmal die Patientin selbst die Sterbehilfe erbeten hatte.
In Strafprozessen lässt sich die Verteidigung manchmal auf waghalsige Strategien ein. Was Wyman jedoch plante, war geradezu abenteuerlich und für seinen Mandanten äußerst demütigend. Nach dem Willen des Anwalts sollte sich Sander dem Gericht als ein Arzt präsentieren, der sozusagen eine sinnlose irrationale Handlung beging - indem er einer bereits Toten noch Luft in die Vene
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