Moerderische Fracht
unabhängigen Staat, und dabei spekulieren sie auf die Unterstützung des Westens. Sie würden keinen Anschlag planen, der ihnen diese Unterstützung für immer rauben würde.«
»Es tut mir leid, da sind Sie nicht auf dem neuesten Stand«, sagte Elena, »die Situation im Kaukasus hat sich grundlegend gewandelt.«
Maybauer schaute sie verdutzt an, und Anna nutzte die Gelegenheit, um sich einzumischen.
»Frau Bakarova hat sich als Politologin sehr eingehend mit Tschetschenien beschäftigt. Warum nutzen wir nicht die Chance, eine Expertin am Tisch zu haben, und hören ihr einfach zu!«
»Gut«, sagte Regner, »klären Sie uns auf! Was für Leute sind das da unten?«
Auch Maybauer nickte mürrisch.
»Zunächst einmal muss man wissen«, begann Elena, »dass der tschetschenische Islam noch relativ jung ist. Die Islamisierung dort begann erst im 18. Jahrhundert. Des Weiteren ist die Religion in Tschetschenien eine sehr eigentümliche Verbindung mit uralten Traditionen eingegangen, die seit Jahrhunderten das Leben der Stämme bestimmen und die vorrangig um Familie, Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft kreisen. Diese Vorstellungswelt ist ziemlich kompliziert und für uns Westler schwer nachzuvollziehen, ich versuche es mal mit einer vereinfachten Version.
Also, Tschetschenen sind Sufiten, die zusammengeschlossen in sufitischen Bruderschaften, den sogenannten Wirden, leben. Ein Wird ist eine Art Glaubensversammlung, die von einem Ustad, einem Glaubenslehrer – meistens ein Scheich – , geleitet wird. Der Ustad gibt sein geistliches Wissen an die normalen Gemeindemitglieder weiter. Zentraler Gedanke in der sufitischen Auslegung ist, dass das Ich ohne Bedeutung ist und sich dem Gemeinsamen unterordnen muss.«
»Klingt ziemlich archaisch«, sagte Bengtson, »ich habe mal einen Kulturfilm über den Kaukasus gesehen, wo die Mitglieder eines Klans stundenlang im Kreis herumgelaufen sind.«
»Ja, das sind rituelle Beschwörungsgebete, sogenannte Sikren, die das Ich von Ängsten und unguten Wünschen befreien sollen.«
»Wie viele von diesen Klans gibt es denn?«, fragte Maybauer.
»Oh, eine ganze Reihe, also es gibt ein paar große und etliche kleinere Gemeinschaften. Politisch einflussreich sind zum Beispiel der Tschin-Mirsa-Wird, der Wis-Hadschi-Wird und der Deni-Arsanow-Wird. Als die Sowjetunion unterging, hatte der Islam in Tschetschenien jedenfalls eine sehr eigenständige Ausprägung, es war ein freier, aufsässiger Islam mit einer sehr eigenwilligen Auslegung der Lehren …«
»Ja, das ist alles hochinteressant«, unterbrach sie Maybauer, »aber wir sind hier nicht in einem religionssoziologischen Seminar. Entscheidend ist die Frage, ob diese Leute nur gegen Russland sind oder das Zeug zu globalem Terrorismus haben.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Sie ebenfalls der Meinung, dass es keine fanatischen Fundamentalisten sind.«
»Wenn Sie sich einen Augenblick gedulden können, erkläre ich es Ihnen.«
Maybauer sah jetzt demonstrativ auf seine Armbanduhr, und ich fragte mich, wie lange Elena es noch schaffte, so ruhig zu bleiben.
»Also, natürlich hat der Islam durch die beiden Kriege einen höheren Zulauf an Gläubigen gehabt, doch eine tatsächliche religiöse Radikalisierung entstand durch die Wahhabiten, die zwischen den Kriegen in den Kaukasus kamen und die reine Lehre des Islam predigten. Selbstverständlich wissen Sie, was Wahhabiten sind, oder?«
»Irgendwelche religiösen Spinner?«, fragte Maybauer.
»Ja«, erwiderte Elena kalt und schaffte es, mit ihrem russischen Akzent einen feinen stalinistischen Unterton zu produzieren, »das sind die Sorte Spinner, die in Saudi-Arabien den Ton angeben. Bin Laden kommt von dort. Wenigstens das werden Sie wahrscheinlich wissen.«
Maybauer wurde rot und trommelte wütend mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte herum.
»Ich glaube nicht, dass ich mir von Ihnen diesen Ton gefallen …«
»Lassen Sie den Quatsch«, unterbrach ihn Arne Skerning, »ich will wissen, was sie zu sagen hat, weil ich nämlich von dem, was sie offenbar weiß, überhaupt noch nie etwas gehört habe.«
Elena schaute in die Runde, und als alle nickten, machte sie weiter.
»Diese Wahhabiten sind in den letzten Jahren immer stärker geworden. Tatsache ist, dass sich der Widerstand in Tschetschenien mittlerweile gespalten hat. Den Separatisten, denen es um Unabhängigkeit von Moskau geht, steht eine große Gruppe islamischer Extremisten gegenüber, die einen Gottesstaat errichten
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