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Moerderische Fracht

Titel: Moerderische Fracht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Erler
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ganzen Quälerei nur das Vorspiel war. Das Vorspiel für einen Höhepunkt, der mit dem Rollstuhl zu tun hatte. Morisaitte wollte, dass ich in dem Rollstuhl starb, in dem er mehr als zwei Jahre gesessen hatte, und das verstand ich sehr gut.
    Der Van stoppte jetzt abrupt, ich war froh, dass der Stuhl fixiert war. Der Belgier öffnete die Tür zur Ladefläche und klappte die Rampe herunter. Kalte, salzige Luft, klar wie Kristall, drang ins Innere des Wagens, und mit unmittelbarer, intuitiver Hellsicht sah ich vor mir, was passieren würde. Ich war auf dem Grunde des Meeres.
    Morisaitte blieb im Wagen sitzen, während der Belgier mich hinaus aufs Watt schob und die Heckklappe schloss. Er überprüfte noch einmal meine Fesseln, richtete sich wieder auf und schaute mich direkt an.
    »Ich soll Ihnen etwas ausrichten«, sagte er und deutete mit dem Daumen auf die Fahrerkabine. »Betrachten Sie es so: Was sind schon zwei Stunden im Rollstuhl gegen zwei Jahre!«
    Dann stieg er in den Van und fuhr davon.

Siebenundzwanzig
    E
    in heftiger nasskalter Wind und ein Lichtschein fegten über mich hinweg. Ich öffnete mühsam die Augen und sah das Licht nach rechts verschwinden. Nach einer kleinen Weile kam es von der linken Seite wieder zurück, tauchte das Watt vor mir in geisterhafte Helligkeit und verschwand wieder. Ich war benommen von den zahllosen Tritten und dem Schlag ins Gesicht, und ich konnte nicht besonders gut sehen, trotzdem wusste ich, wo ich mich befand – zumindest ungefähr.
    Das Licht kam vom Leuchtturm der Insel Neuwerk. Wie weit war er entfernt? Vier, vielleicht fünf Kilometer? Der Weg von Cuxhaven nach Neuwerk übers Watt war etwa acht Kilometer lang, und ich vermutete, dass sie mich auf der Hälfte der Strecke ausgesetzt hatten. Aber letztendlich spielte das keine Rolle. Ich würde es weder nach Neuwerk noch nach Cuxhaven schaffen.
    Sie hatten den Rollstuhl so gedreht, dass ich die Flut kommen sehen würde. Ein Freisitz mit Meeresblick. Noch stand das Wasser bloß zentimeterhoch in den zahlreichen Prielen und Rinnsalen, die das Watt im Mondlicht wie glänzende Silberfäden durchzogen. Wie lange würde es dauern, bis es mich erreicht hatte? Die Gezeiten wechseln im Rhythmus von etwa sechs Stunden und zwölf Minuten, hatte Monk gesagt, die Flut braucht im Schnitt nur 85 Prozent der Zeit, in der die Ebbe abfließt. Also etwa sechs Stunden. Aber das war falsch. Irgendetwas war falsch an dieser Berechnung. Ich schloss die Augen und lehnte meinen Hinterkopf an die Kopfstütze des Rollstuhles. Sie war eiskalt, doch die Kälte schien meine rasenden Kopfschmerzen für wenige Augenblicke zu dämpfen. Sechs Stunden. So lange dauerte der Gezeitenwechsel. Schulkinder lernen das. Monk hatte allerdings noch etwas anderes gesagt. Etwas, an das ich mich nicht erinnern konnte. Du bist ein großer Schlaukopf, leider kannst du nicht klar denken! Nein, das hatte Anna gesagt, nicht Monk. Wie ungerecht! Niemand konnte klar denken, wenn sein Kopf vorher mit einem Schlagring traktiert worden war. Das musste ich ihr unbedingt sagen, wenn ich sie …
    Tidenhub.
    Ein merkwürdiges Wort, das Monk gebraucht hatte. Der Tidenhub bei Cuxhaven beträgt etwa 2,85 Meter.
    Ich hatte keine sechs Stunden. Die niederschmetternde Erkenntnis zündete erneut einen grellen Schmerz in meinem Kopf, und mein malträtierter Unterleib zog sich krampfartig zusammen. Sechs Stunden dauerte es, bis die Flut zur stolzen Höhe von 2,85 Metern aufgelaufen war, aber zu diesem Zeitpunkt würde ich längst tot sein. Überflutet, ertrunken, weggespült. Ein Teil des wunderbaren Ökosystems Wattenmeer. Im Rollstuhl war mein Kopf höchstens 1,40 Meter vom Meeresboden entfernt. Wie lange brauchte die Flut, um diese Höhe zu erreichen? Das Wasser läuft sehr schnell auf, hatte Monk gesagt. Es würde mein Leben behalten und den Rollstuhl wieder ausspucken. Vielleicht mit ein paar Teilen von mir dran.
    Dies war der Moment, in dem meine Stimme zurückkam und ich zu schreien anfing. Ich schrie um Hilfe, ich schrie nach Elena, und ich verfluchte schreiend meine Dummheit. Der auffrischende Wind riss die Schreie mit sich und verteilte sie so schnell über das Watt, dass sie wahrscheinlich in drei Metern Entfernung von mir schon nicht mehr zu hören waren, doch ich konnte nicht aufhören. Ein Teil meines Verstandes wusste, wie sinnlos es war, aber es war einfach unmöglich, nicht zu schreien. Ich schrie, bis ein wütender Schmerz in meiner Kehle von meiner Stimme nur noch ein

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