Moerderische Fracht
verzweifeltes Krächzen übrig ließ.
Die kalte Luft brannte in meinen Lungen, ihre Feuchtigkeit und der Salzgehalt nahmen zu. Wenn ich mit der Zunge über meine aufgeplatzten Lippen fuhr, konnte ich es schmecken. Und ich hatte Durst. Entsetzlichen Durst. Den alles beherrschenden Durst eines Menschen in der Wüste – so falsch war der Vergleich zumindest auch optisch nicht. Die sich vor mir ausbreitende, leicht gewellte, scheinbar endlose Sandfläche hatte durchaus etwas Wüstenähnliches. Eine Wüste aus Schlick, Sand und Ton, die lebte, atmete und tötete.
Was für eine denkwürdige Art, zu sterben. Abertausende von Schiffbrüchigen waren auf dem Meer verdurstet, umgeben von Wasser, das man nicht trinken durfte, wenn man das Sterben nicht beschleunigen wollte. Vor zwei Jahren hatte ich in Flandern einen Mann gesehen, der auf einem Steinfußboden ertrank, weil eine Kugel einen Teil seiner Kehle zerfetzt hatte, und er bei jedem verzweifelten Atemzug das Blut in seine Lungen schlürfte.
Ich allerdings würde etwas wirklich Einmaliges vollbringen. Ich würde auf dem Meeresgrund verdursten.
Nein, sagte eine leise und kalte Stimme in meinem Kopf, so fiel Zeit bleibt nicht. Vorher kommt das Wasser! Sie haben übrigens seit zwei Jahren nichts mehr veröffentlicht! Ich kannte die Stimme, nur konnte ich mich nicht erinnern, woher. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr so gut erinnern, sah jedoch mit absoluter Klarheit, dass die Stimme recht hatte.
Natürlich würde ich nicht verdursten, sondern ertrinken, getötet werden von einer unvorstellbaren Wassermasse, die sich da draußen auf mich zubewegte …
Dann senkte sich Dunkelheit herab, und mein Gehirn nahm eine Auszeit. Es war keine wirkliche Ohnmacht, eher eine Art Trance. Ich wollte es nicht zulassen, versuchte mich auf den Leuchtturm zu konzentrieren, mit der Realität in Kontakt zu bleiben, doch Schmerzen, Verzweiflung, Angst und Kälte zerrissen das dünne Band und ließen meinen Verstand davontreiben, landeinwärts, wie einen Ballon im Wind. Alles war falsch gelaufen. Nicht nur das hier, sondern nach Helens Tod so ziemlich alles. Ein toter Mann auf dem Bahnhofsklo und zwei Tote in einem Haus in Flandern. Meine Rache, die nicht wie geplant funktioniert hatte. Ich hätte mich davon überzeugen sollen, dass er auch wirklich tot war: And I’ll stand over your grave, till I’m sure that you are dead. Mister Dylan wusste, was zu tun war. Ich dagegen hatte es versaut. Stattdessen hatte ich Jacqueline van t’Hoff verraten. Und Elena? Nein, Elena nicht …, das war schon lange her. Wie lange? Egal! Die Zeit hatte keine Bedeutung mehr. Auch die Empfindungen und Geräusche nicht, die in mein Bewusstsein drängten. Welche Geräusche? Spielt keine Rolle.
Welche? Geräusche?
Ein sanftes Plätschern und Schwappen, das meine mit Klebeband fixierten Füße umspülte und in Eisklumpen verwandelte.
Ich zwang mich, die Augen zu öffnen. Die Konturen um mich herum wurden schärfer, und ich merkte, dass ich wieder fokussieren konnte. Die Sichtverhältnisse waren ausgezeichnet. Das Mondlicht schien an Intensität noch zugenommen zu haben, und der Leuchtturm ließ nach wie vor seinen geisterhaften Lichtkegel kreisen. Mein Endspiel würde unter Flutlicht stattfinden.
Der Meeresboden war nun vollständig von Wasser bedeckt. Wenn ich davon ausging, dass die Fußstützen des Rollstuhles zehn Zentimeter über dem Boden waren, hatte die Flut, die um meine Knöchel spielte, eine Höhe von etwa zwanzig Zentimetern erreicht. Wie lange auch immer mein Geist an jenem merkwürdigen Ort gewesen war, ich hatte einiges verpasst. Bei dem, was jetzt kam, würde ich dabei sein.
Links von mir, am äußersten Rand des kreisenden Lichtkegels, nahm ich einen hoch aufragenden Pfahl mit einer klobigen Verdickung am oberen Ende wahr. Was hatte Monk gesagt? Seit der Anschaffung der Rettungsbaken ist es hierfür Wattwanderer sehr viel sicherer geworden. Schon möglich. Leider galt das nicht für Rollstuhlfahrer, vor allem nicht für solche, die gar nicht fahren konnten.
Das Wasser stieg jetzt schneller, aber vielleicht kam es mir auch nur so vor. Ich hatte endgültig jedes Zeitgefühl verloren und offenbar einen weiteren mentalen Aussetzer gehabt, denn mit Erstaunen registrierte ich plötzlich, dass das Wasser meine Knie erreichte. Die nächste Welle schwappte über meinen Schoß und setzte meinen Unterleib unter Wasser. Wegen der fortgeschrittenen Auskühlung spürte ich meinen Körper überhaupt
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