Moerderische Fracht
Fenstern abgeteilt. Der Mann schloss die Tür auf, schubste mich hinein und schaltete das Licht an. Der etwa zehn Quadratmeter große Raum, von dem aus man das Geschehen in der Halle gut überwachen konnte, hatte offenbar einmal als eine Art Büro für die Betriebsleitung gedient. Es gab ein paar Stühle, einen alten Schreibtisch mit einer schmuddeligen Resopalplatte und darauf ein altmodisches Festnetztelefon mit Wählscheibe, dessen Kabel aus der Wand herausgerissen worden war. An den Wänden hingen erkennbar alte Fotos, Plakate von Segeljachten und Konstruktionspläne für Boote. Alles machte einen heruntergekommenen und verlassenen Eindruck. Mein Entführer warf mich hinter dem Schreibtisch zu Boden, fesselte mich mit Handschellen an einen schmutzigen Heizkörper und tätschelte mir mit einer beinahe freundschaftlichen Geste den Kopf.
»Nicht weglaufen«, sagte er. Dann ging er hinaus und schloss die Tür hinter sich ab.
Sechsundzwanzig
I
ch saß mit dem Rücken an den Heizkörper gelehnt auf dem Fußboden und starrte auf die vergilbten Poster an den Wänden. Bilder von stolzen Jachten, die in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts von reichen und gut aussehenden Männern gesegelt worden waren. Wenn man den Fotos glauben konnte, hatte eines der Boote sogar einmal am America’s Cup teilgenommen. Die Halle, in die ich von meiner Position aus nicht hineinsehen konnte, war augenscheinlich die Fertigungshalle eines größeren Bootsbaubetriebes gewesen, der pleitegegangen war. Der Niedergang der Werftindustrie hatte auch viele kleinere und mittelständische Bootsbauer an der Küste in die Insolvenz getrieben, und wie es aussah, war dieser Betrieb ohne Nachfolger geblieben.
Ein paar Mal hatte ich versucht, ein wenig Lärm zu machen, was natürlich sinnlos war. Mit zugeklebtem Mund konnte man nun mal nicht schreien, und meine hilflosen Tritte gegen den Schreibtisch waren ungehört verhallt. Wo war Morisaitte? Warum hatten sie mich hierher gebracht? Es wäre ein Kinderspiel gewesen, mich gleich zu töten, doch natürlich wollte er es selbst tun. Auf eine sehr langsame und schmerzvolle Weise. Ich erinnerte mich an meine eigenen Worte, damals, als ich ihn in der Klinik besucht hatte, um mich an seinem Elend zu weiden: Ursprünglich wollte ich mir einfach eine Pistole besorgen und Sie auf offener Straße erschießen, aber, um ehrlich zu sein, das war mir nicht gemein genug. Morisaitte würde das genauso sehen. Er hatte mehr als zwei Jahre Zeit gehabt, sich seine Rache in allen Einzelheiten auszumalen, und als ehemaliger Bosnienkämpfer verfügte er über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz in Sachen Folter und Quälerei.
Sie kamen am Abend. Ich hatte keine Uhr und schon lange jedes Zeitgefühl verloren. Als ich den Van in die Halle hineinfahren hörte, war es draußen schon vollständig dunkel. Es waren vier, Morisaitte und drei seiner Leute. Der Belgier, der mir den Elektroschock verpasst hatte, kam zuerst herein. Danach Morisaitte. Langsam und aufrecht, das rechte Bein ein wenig nachziehend, betrat er den Raum. Den Gehstock in seiner linken Hand schien er nicht wirklich zu brauchen. Er sah gut aus. Nicht so gut wie vor dem Schlaganfall, jedoch nicht annähernd so elend, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Sein ehemals grauschwarzes Haar war jetzt vollständig ergraut, und er hatte einiges an Gewicht verloren, aber weder die Asymmetrie der Gesichtszüge mit dem leicht hängenden Augenlid noch die Lähmung der rechten Körperhälfte konnten darüber hinwegtäuschen, dass er genauso gefährlich war wie früher. Dicht hinter ihm betraten zwei Männer den Raum, die mit ihren sonnenverbrannten Gesichtern und rasierten Schädeln haargenau der Beschreibung entsprachen, die Dr. Brugmann in Antwerpen mir gegeben hatte. Einer von ihnen schob den Rollstuhl, den ich in dem Van gesehen hatte, vor sich her. Morisaitte machte dem Belgier ein Zeichen mit der Hand, dieser hob mich vom Boden auf und setzte mich auf einen der alten Stühle. Mit einem einzigen schmerzhaften Ruck riss er das Klebeband von meinen Lippen. Morisaitte winkte ebenfalls nach einem Stuhl und ließ sich in etwa einem Meter Entfernung von mir darauf nieder.
Niemand sprach. Mein Gegenüber funkelte mich mit seinem gesunden linken Auge hasserfüllt an und schien nach Worten zu suchen. Dann war er bereit.
»Schön … Sie zu sehen. Sehr schön!«
Die Worte kamen etwas stockend, aber faszinierenderweise hatte sich seine Stimme überhaupt nicht
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