Moerderische Fracht
nicht mehr. Die Schmerzen waren verschwunden. Wie lange konnte man um diese Jahreszeit ohne Schutzanzug in der Nordsee überleben? Alle Geschichten von im eiskalten Meerwasser treibenden Schiffbrüchigen, die ich gelesen hatte, handelten von Leuten, die schwimmen oder sich, an Wrackteile oder Rettungsbojen klammernd, zumindest irgendwie bewegen konnten. Nichts davon traf auf mich zu.
Und da war noch eine Kleinigkeit, die ich offenbar dauernd vergaß. Mir blieb gar keine Zeit, an Auskühlung zu sterben, weil ich einfach vorher ertrinken würde. Wie zur Bestätigung rollte in diesem Augenblick eine große Welle auf mich zu, traf mich unterhalb des Brustbeins und hinterließ salzige Spritzer auf meinem Gesicht.
Wo mochte Elena jetzt sein? Und was hatte sie unternommen? Sie war mit Sicherheit verblüfft und ärgerlich gewesen, als sie mich nach ihrer Rückkehr nicht in dem Ferienhaus vorgefunden hatte, doch sie hatte sich wahrscheinlich nicht gleich Sorgen gemacht. Ich konnte ja spazieren gegangen sein oder ebenfalls eine Runde joggen? Schließlich wusste sie nicht das Geringste über meine morgendlichen Gewohnheiten. Möglicherweise war sie irritiert gewesen, dass ich keinen Zettel hinterlassen hatte, aber war ich der Typ, der Zettel hinterließ, wenn er abhaute? Spätestens nach einer Stunde allerdings hatte sie mit Sicherheit Anna und Meiners angerufen, und Anna war sofort alarmiert gewesen. Was hatten die drei getan? Was hätte ich getan? Ich hätte die Polizei eingeschaltet und mich zudem selbst auf die Suche gemacht. Aber wo? Zu diesem Zeitpunkt musste es etwa acht Uhr morgens gewesen sein, und seitdem waren wahrscheinlich mehr als vierzehn Stunden vergangen. Es war aussichtslos. Sie hatten mich nicht gefunden, und daran würde sich auch nichts mehr ändern.
In diesem Augenblick begriff ich, dass ich tatsächlich hier sterben würde – und akzeptierte es. Ich dachte an meine Kindheit, an ein zehnjähriges Mädchen, das am Ende eines wunderbaren gemeinsamen Sommers an der schwedischen Schärenküste ertrank. Nach Benjas Tod wurde ich krank, und als ich an einem verregneten Augusttag die Klinik verließ, hatte ich auf sehr grundlegende Weise verstanden, dass der Tod eine unausweichliche Tatsache des Lebens war. Kinder halten sich im Grunde für unsterblich, die Verdrängung des Gedankens an den eigenen Tod funktioniert noch beinahe vollständig, aber auf mich traf das nicht mehr zu. In all den Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte ich immer wieder versucht mir vorzustellen, wie dieser Moment sein würde. Jetzt wusste ich es.
Ich dachte an Elena. An ihre smaragdgrünen Augen, an den Geruch ihrer hellen Haut und den erregenden Klang ihrer rauen Stimme. Erschreckenderweise konnte ich sie nicht hören, konnte die Erinnerung nicht richtig abrufen. Dafür war da jemand anderes in meinem Kopf. Eine ruhige, geduldige und überaus vernünftige Stimme, die ich schon viele Jahre nicht mehr gehört hatte. Glück gehabt, sagte die Stimme. Du hast drei absolut unglaubliche Frauen kennengelernt. Es ist überhaupt nicht alles falsch gelaufen. Es war die Stimme meines Vaters. Aus der Zeit, bevor er den Verstand verlor und die Demenz diesen unsicheren und weinerlichen Ton hineinmischte, der mich bei jedem Besuch in Schweden rasend gemacht hatte.
Nur gebrummt hatte er nicht. Niemals. Das Wasser hatte jetzt knapp meine Schultern erreicht. Ich sah eine weitere große Welle auf mich zukommen und schloss Mund und Augen, als sie beinahe sanft über mich hinwegrollte. Das Brummen war noch da, doch nicht in meinem Kopf, sondern irgendwo hinter mir. Es war ein ungleichmäßiges, dunkles Brummen, eigentlich mehr ein Röhren.
In diesem Augenblick kippte der Rollstuhl nach hinten, und ich geriet unter Wasser. Die Strömung hatte zugenommen und war jetzt trotz des relativ ruhigen Wetters und Seeganges so stark, dass es den Rollstuhl nicht mehr auf den Rädern hielt. Ich schluckte Wasser, würgte, schrie, und die zurückschwappende Welle brachte mein Gesicht wieder an die Oberfläche. Das Brummen wurde stärker, war jetzt sehr nahe und erstarb abrupt. Dann traf mich etwas hart am Hinterkopf und ich versank.
Achtundzwanzig
Z
u ertrinken war gar nicht so schlimm. Zumindest nicht annähernd so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Und seltsamerweise war es auf dem Grund des Meeres viel wärmer als an der Wasseroberfläche. Wärmer und trockener. Viel angenehmer. Etwas Brummendes hatte mir auf den Hinterkopf geschlagen, was meine Lage
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