Moerderische Fracht
begründet wurden. Ich hörte Elenas russische Flüche und Selbstgespräche, während ich auf dem Ergometer-Fahrrad meine imaginären Runden drehte, und mir wurde klar, dass Cuxhaven und Meiners’ Haus uns zunehmend belasteten.
Wir mussten hier weg. Ich weiß nicht mehr, an welchem der gleichförmigen Tage sich dieser Gedanke in meinem Kopf festsetzte, aber als ich eines Morgens aufwachte, wusste ich, wohin ich wollte. Ich dachte an einen Ort meiner Kindheit, an dem ich einmal wider Erwarten eine sehr glückliche Zeit verlebte – im einzigen Urlaub, den meine Eltern nicht an der Schärenküste verbrachten. Nachdem Benja dort ertrunken war, hatte ich mich schlicht geweigert, nach Schweden zu fahren. Da mein Vater auf jeden Fall in Skandinavien Urlaub machen wollte, waren wir auf Fanø gelandet, einer kleinen dänischen Insel im Wattenmeer, mit dem Rücken zu Jütland und die weißen Strände dem Rest der Welt zugewandt. Niedrige strohgedeckte Häuser, üppige Vegetation, weit draußen die Robbenbänke und ein fantastisches Licht. Ich schloss die Augen und sah mich mit meinen Eltern im Watt. Es war Spätherbst, ziemlich neblig. Je weiter wir hinauswanderten, desto mehr zog der Nebel in Richtung Festland. Als er sich am Rande des Watts lichtete, brach die Sonne aus den Wolken hervor, und ein Schwarm wilder Schwäne zog über unsere Köpfe hinweg. Dreizehnjährige haben üblicherweise nicht viel Sinn für Naturschönheiten, doch diesen magischen Moment hatte ich nicht vergessen.
Ich weckte Elena, die kurz die Augen öffnete und sich sofort die Bettdecke über den Kopf zog.
»Wir gehen nach Fanø!«
Elena ließ die Decke etwas sinken.
»Ladno!«, sagte sie.
»Was heißt das?«
»Das heißt okay. Wir nehmen Anna mit.«
»Ladno«, sagte ich, aber Elena war schon wieder eingeschlafen.
Neununddreißig
I
ch will euch nicht stören.«
»Tust du nicht! Wir würden dich gerne bei uns haben. Lass uns zu dritt noch ein paar Urlaubstage verbringen, bevor wir nach München zurückfahren. Ich will irgendwie einen Strich unter die ganze Sache ziehen. Helen ist tot, Morisaitte ist tot, und das verdammte Schiff ist untergegangen. Aber wir werden weiterleben.«
Die Telefonverbindung war sehr schlecht, es rauschte und knisterte wie bei einem Ferngespräch nach Äquatorialguinea. Ich hatte Anna gleich nach dem Frühstück angerufen, und schon als ich ihre Stimme hörte, wusste ich, dass das eine gute Idee gewesen war.
»Ich komme nicht zurück nach München«, sagte sie.
»Das habe ich mir schon gedacht. Dafür wird Elena zu mir ziehen. Wir können uns ja gegenseitig beim Umzug helfen.«
»Was wird aus dem alten Sergej?«
»Ich weiß es noch nicht. Uns wird etwas einfallen.«
»Sicher«, sagte Anna, »wo liegt denn jetzt deine kleine Insel?«
»An der jütländischen Westküste. Die Fahrt mit der Fähre von Esbjerg aus dauert zwölf Minuten.«
»Wenn wir nach Esbjerg fahren, könnten wir doch Jette Paulsen besuchen.«
»Natürlich. Ich weiß allerdings nicht, ob sie zurzeit überhaupt in Dänemark ist.«
»Ich lass mir von Volker ihre Nummer geben und kläre das.«
»Okay.«
Anna schwieg eine Weile.
»Ich bin sehr froh über deinen Anruf«, sagte sie schließlich. »Volker ist wunderbar, nur, ich halte es hier kaum noch aus. Ich habe in den letzten Wochen so viel Elend gesehen, dass ich nicht mehr richtig schlafen kann. Der schwarze Strand, Tausende verreckter Tiere, verzweifelte Fischer … die Stimmung ist fürchterlich. Als ich mit Volker auf dem Darß unterwegs war, ist eine Leiche angeschwemmt worden. Genau da, wo wir die ölverschmierten Seevögel einsammelten. Es war eine Frau, sie muss seit dem 11. September im Wasser getrieben haben. Ich weiß nicht, warum sie nicht gesunken ist. Es war grauenvoll.«
Annas Stimme brach, und ich hörte, wie sie weinte.
»Komm zu uns nach Cuxhaven – wir fahren zusammen nach Fanø. Du kannst auch Volker mitbringen.«
»Auf den können sie im Institut nicht verzichten. Aber ich werde sein Auto ausleihen. Er benutzt es kaum.«
»Wann kannst du hier sein?«
»Ich spreche mit Volker, wenn er einverstanden ist, fahre ich einfach los. Und wenn er nicht einverstanden ist, fahre ich auch!«
Annas Stimme hatte sich noch nicht erholt, doch der schnodderige Tonfall gab Anlass zur Hoffnung. Mit dem schönen Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben, legte ich auf.
Spät am Nachmittag kam sie in Cuxhaven an. Wir gingen essen und sprachen die ganze Nacht miteinander. Über uns,
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