Moerderische Fracht
über alles, was seit Helens Tod geschehen war – und darüber, dass wir keine Angst mehr haben mussten …
Am nächsten Morgen fuhren wir nach Dänemark.
Vierzig
Z
u Beginn des Jahres 1868 kam es in beiden Kammern des dänischen Parlaments zu einer heftigen Debatte, die mit einer für nüchterne und bodenständige Dänen ungewohnten Emotionalität geführt wurde. Grund war ein Gesetzentwurf, der vorsah, in Jütlands wildem Westen – einer Gegend, die aus Kopenhagener Sicht ein ödes, raues und abgelegenes Stück Dänemark war – einen Hafen zu bauen. Die Befürworter setzten sich durch, der Hafen entstand und mit ihm die Stadt Esbjerg. Gegründet in einer Zeit, als neue Industriestädte nach sogenannten Netzplänen mit geraden, sich rechtwinklig kreuzenden Straßen heranwuchsen, entwickelte sich die Stadt zu einer regionalen Metropole, in der sich auch Menschen mit lausigem Orientierungssinn bestens zurechtfinden. Ich war schon oft in Westjütland gewesen, und ich mochte die Stadt, besonders den Hafen.
Wer sich Esbjerg vom Meer her nähert, wird mit einem Anblick konfrontiert, bei dem man sich verwundert die Augen reibt. Es handelt sich um Svend Wiig Hansens neun Meter hohe Monumentalskulptur »Der Mensch am Meer«, die zu einer Art Wahrzeichen der Stadt geworden ist. Man sieht vier Statuen, riesige, schneeweiße, geschlechtsneutrale Menschen, die nebeneinander auf großen Steinen sitzen und mit unergründlich stoischer Miene auf die Nordsee gucken. Sie sind kahlköpfig und unbekleidet und erinnern in ihrer stilisierten Steifheit an die geheimnisvollen Figuren auf den Osterinseln.
Als wir um die Mittagszeit nach Esbjerg hineinfuhren, sahen wir in Höhe des Fischerei- und Seefahrtsmuseums vor uns die Rücken der riesigen Herrschaften aufragen, und Anna trat abrupt auf die Bremse. Obwohl unser Wagen nicht ganz zum Stehen kam, begann hinter uns sofort ein wütendes Hupkonzert.
»Ja-ha«, maulte Anna, »ist ja gut. Was für Burschen sind das denn?«
»Das ist Kunst«, sagte Elena, »das verstehst du nicht. Fahr da rechts auf den Parkplatz!«
Das Fiskeri- og Søfartsmuseet in Esbjerg ist ein großer, verschachtelt wirkender Klinkerbau, der zweifellos zu den touristischen Attraktionen der Stadt gehört. Als wir die Stufen zum Eingangsbereich hinaufgingen, passierten wir an der Tür das Skelett eines riesigen Pottwals, das von einer ganzen Schulklasse ehrfürchtig bestaunt wurde; auch im Museum selbst herrschte reger Betrieb.
Jette Paulsen hatte sich am Morgen sehr über Annas Anruf gefreut und uns sogleich eingeladen. Ihr Sabbatical war zu Ende, und so hatten wir uns im Fischereimuseum verabredet.
Wir trafen sie in einem großen Ausstellungsraum, in dem eine Multimedia-Show zum Thema Walfang gezeigt wurde und Kinder kleine Meerestiere, die in flachen Bassins herumschwammen, hautnah erleben konnten. Als wir hereinkamen drückte sie gerade einem kleinen Jungen einen Krebs in die Hand, den dieser mit einem angeekelten Aufschrei wieder ins Wasser plumpsen ließ. Paulsen lachte, winkte eine ihrer Kolleginnen heran und kam uns entgegen.
»Hi!«, sagte sie, »schön, dass ihr gekommen seid. Ich wollte euch schon die ganze Zeit anrufen, aber ich hatte nach dem freien Jahr ziemliche Schwierigkeiten, mich wieder an die Arbeit zu gewöhnen.«
»Ist das dein Job?«, fragte Anna und deutete auf die Bassins und die Schulkinder.
»Nein, ich bin zuständig für das Wasser in den großen Aquarien. Sauberkeit, Temperatur, Salzgehalt und so weiter: Alles muss auf die unterschiedlichen Fischarten speziell abgestimmt und dauernd kontrolliert werden. Doch wenn ich zwischendurch etwas Zeit habe, helfe ich gerne bei den Kindern aus.«
»Wie lange musst du heute Abend arbeiten?«
»Ich kann um 18 Uhr hier weg. Wir treffen uns im Sand’s. Ich habe einen Tisch reserviert.«
Anna nickte begeistert. Ich sah ihr an, dass sie im Kopf überschlug, wie lange es bis zum Abendessen noch dauern würde. Dann überließen wir Paulsen den Schulkindern und sahen uns Esbjerg an.
Wir schlenderten durch die Kongensgade, die längste Fußgängerzone Dänemarks, bestaunten die architektonische Vielfalt der alten Patrizierhäuser und stiegen auf den Wasserturm, der wie eine mittelalterliche deutsche Burg aussah. Anna und Elena wollten unbedingt die Bernsteinausstellung im Esbjerg Museum anschauen, und da ich in regelmäßigen Abständen eine Pause brauchte, lernten wir auch einige sehr gemütliche Cafés kennen.
»Was heißt gemütlich auf
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