Moerderische Kuesse
so ereignislos verlaufen waren. Hätte sie erkennen lassen, dass ihr etwas an der Gesellschaft ihres Vaters lag, hätte er viel energischer nach Antworten verlangt, aber sie hatte sie alle an die Wand gespielt.
Ganz offensichtlich war sie ein Profi und stand auf der Gehaltsliste eines seiner Rivalen. Als Profi verfügte sie wahrscheinlich über mehrere Identitäten, die sie einsetzen konnte, um nach dem Mord unterzutauchen, oder sie hatte schlicht und ergreifend ihren richtigen Namen verwendet, da Denise Morel ein Pseudonym war. Ganz eindeutig hatte sie in dem Flugzeug nach London gesessen – das hatten seine Männer beobachtet –, und das bedeutete, dass sie auf der Passagierliste stehen musste. Er musste nur herausfinden, unter welchem Namen sie geflogen war, und die Spur von dort aus wieder aufnehmen. Die vor ihm – oder genauer gesagt vor seinen Leuten – liegende Aufgabe war allem Anschein nach kaum zu bewältigen, aber er hatte einen ersten Anhaltspunkt.
Er würde jeden einzelnen Passagier überprüfen lassen, der an Bord dieses Flugzeugs gewesen war, bis er sie schließlich gefunden hatte.
Und er würde sie finden, ganz gleich, wie lange es dauern mochte. Und dann würde er sie wesentlich schlimmer leiden lassen, als sein armer Vater gelitten hatte. Bis er mit ihr fertig war, würde sie ihm nicht nur alles verraten, was sie über ihren Auftraggeber wusste, sie würde auch ihre eigene Mutter dafür verfluchen, dass sie ihr jemals das Leben geschenkt hatte. Das schwor er beim Grab seines Vaters.
Lucas Swain schlich lautlos durch die Wohnung, die Liliane Mansfield, auch bekannt unter dem Namen Denise Morel, aufgegeben hatte.
O ja, ihre Kleider waren noch da, wenigstens zum größten Teil. In den Küchenschränken lagerten noch Lebensmittel, und in der Spüle stand eine benutzte Schüssel mit Löffel. Es sah so aus, als wäre sie nur zur Arbeit oder eben mal einkaufen gegangen, aber er wusste, dass es nicht so war. Er erkannte die Arbeit eines Profis auf den ersten Blick. In der ganzen Wohnung, war kein einziger Fingerabdruck zu entdecken, nicht einmal auf dem Löffel in der Spüle. Sie hatte keine Spuren hinterlassen.
Nach dem Dossier, das er über sie gelesen hatte, passten die zurückgelassenen Kleider sowieso nicht zu ihrem Typ. Diese Kleider gehörten Denise Morel, und Lily hatte diese Denise, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatte, abgestreift wie eine alte Schlangenhaut. Salvatore Nervi war tot; damit hatte Denise ihre Existenzberechtigung verloren.
Ihn wunderte nur, dass sie so lange hier geblieben war. Der alte Nervi war allem Anschein nach vor über einer Woche gestorben, und dennoch hatte ihm der Vermieter erklärt, Mademoiselle Morel sei erst heute Morgen mit dem Taxi weggefahren. Nein, er wisse nicht, wohin, aber sie habe nur eine kleine Reisetasche dabeigehabt. Vielleicht war sie ja übers Wochenende weggefahren.
Stunden. Er hatte sie nur um wenige Stunden verpasst.
Natürlich hatte ihn der Vermieter nicht in die Wohnung gelassen. Swain hatte sich ins Haus schleichen und das Schloss an der Wohnungstür knacken müssen. Immerhin hatte ihm der Vermieter verraten, in welcher Wohnung sie wohnte, womit er Swain die Mühe erspart hatte, nachts in seinem Büro einzubrechen und in seinen Unterlagen nachzusehen, was ihn noch mehr Zeit gekostet hätte.
So wie es aussah, hatte er trotzdem nur seine Zeit vergeudet.
Sie war nicht mehr da, und sie würde auch nicht zurückkommen.
Auf dem Tisch stand eine Obstschüssel. Er suchte sich einen Apfel aus, polierte ihn an seinem Hemd glatt und biss hinein.
Verflucht, er hatte Hunger, und wenn sie den Apfel selbst gewollt hätte, hätte sie ihn mitgenommen. Aus reiner Neugier warf er einen Blick in den Kühlschrank, um festzustellen, was noch Essbares da war, und schlug enttäuscht die Tür wieder zu.
Nur Frauensachen: Obst, ein bisschen Gemüse und etwas vergammelten Käse oder Joghurt. Warum hatten weibliche Singles nie was Richtiges zu essen im Haus? Er hätte alles getan für eine Pizza mit Pepperoni. Oder ein dickes Steak mit einer Riesenkartoffel voller Butter und Sauerrahm dazu. So was war für ihn Essen.
Während er überlegte, was er als Nächstes unternehmen sollte, aß er einen zweiten Apfel.
Laut ihrem Dossier fühlte sich Lily in Frankreich wie zu Hause und sprach Französisch ohne jeden Akzent. Offenbar besaß sie eine natürliche Akzentbegabung. Zwar hatte sie einige Zeit in Italien gelebt und die ganze zivilisierte Welt bereist,
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