Moerderische Kuesse
dreißig Minuten befanden sie sich in der Luft und auf dem etwa einstündigen Flug nach London. Lily tauschte mit ihrer Sitznachbarin ein paar Höflichkeiten aus, wobei sie ihren englischen Privatschulakzent mobilisierte, der ihrer Nachbarin ausgesprochen sympathisch zu sein schien.
Selbst nach den vielen Jahren in Frankreich fiel ihr der britische Akzent wesentlich leichter als der französische, weshalb sie innerlich erleichtert aufseufzte, weil sich ihr Hirn endlich entspannen durfte. Erschöpft von dem langen Marsch durch den riesigen Flughafen, döste sie ein.
Etwa eine Viertelstunde vor der Landung beugte sie sich nach vorn und zerrte ihre Umhängetasche unter dem Sitz hervor. »Bitte entschuldigen Sie«, meinte sie zaghaft zu ihrer Sitznachbarin, »aber könnten Sie mir vielleicht bei einem kleinen Problem behilflich sein?«
»Ja bitte?«, erwiderte die Frau höflich.
»Ich heiße Alexandra Wesley – vielleicht haben Sie ja schon von Wesley Engineering gehört? Die Firma gehört meinem Mann Gerald. Die Sache ist so –« Lily blickte scheinbar verlegen zu Boden. »Also, die Sache ist so, ich möchte ihn verlassen, was er gar nicht gut aufgenommen hat. Er lässt mich verfolgen, und ich habe Angst, dass seine Männer mich verschleppen könnten. Er neigt zur Gewalttätigkeit, alles muss nach seinem Willen gehen, und … ich kann einfach nicht zu ihm zurück.«
Die Frau sah sie verlegen und neugierig an, als wäre sie einerseits peinlich berührt, von einer Fremden so intime Dinge zu hören, aber gleichzeitig auch fasziniert. »Sie Ärmste.
Natürlich können Sie nicht zu ihm zurück. Aber wie kann ich Ihnen da helfen?«
»Könnten Sie nach der Landung diese Tasche für mich aus dem Flugzeug bringen und auf der nächsten Toilette abstellen?
Ich werde Ihnen folgen und sie dort wieder übernehmen. Ich habe meine Verkleidung darin«, erklärte sie hastig, als die Frau sie erschrocken ansah, denn im Zeitalter weltweiter Terrorangst ließ sich niemand gern eine fremde Tasche andrehen. »Schauen Sie sich alles an.« Eilig zog sie den Reißverschluss auf. »Kleider, Schuhe, Perücken. Sonst nichts.
Die Sache ist, seine Leute könnten so was vermuten – dass ich mich verkleide, meine ich – und darauf achten, welche Taschen ich mit auf die Toilette nehme. Ich habe einen Ratgeber für Frauen gelesen, die von einem Stalker verfolgt werden, und darin wurde das erwähnt. Bestimmt erwarten mich seine Leute schon in Heathrow, da bin ich ganz sicher; sobald ich durch die Kontrollen bin, werden sie mich schnappen.« Sie rang die Hände, in der Hoffnung, angemessen verängstigt auszusehen.
Dass ihr Gesicht nach den letzten Tagen so schmal und ausgezehrt war, machte ihr Mienenspiel noch überzeugender, und nachdem sie sowieso eher schlaksig gebaut war, wirkte sie noch zerbrechlicher als sonst.
Die Frau nahm Lily die Tasche ab und begutachtete ausgiebig jeden einzelnen Gegenstand darin. Als sie eine der Perücken untersuchte, leuchtete ein Lächeln auf ihrem Gesicht auf. »Auffälligkeit ist oft die beste Tarnung, nicht wahr?«
Lily erwiderte ihr Lächeln. »Hoffentlich klappt es.«
»Wir werden sehen. Andernfalls fahren Sie mit mir im Taxi.
Uns beide können sie schlecht entführen.« Die Abenteuerlust der Frau war geweckt.
Hätte sie nicht neben einer Frau gesessen, hätte Lily improvisieren oder auf ihr Glück bauen müssen, aber dieses kleine Wechselspiel erhöhte ihre Chancen ein wenig, und im Moment war sie dankbar für jeden noch so kleinen Vorteil. Im Flughafen erwarteten sie möglicherweise nicht nur Rodrigos Schläger, sondern auch Leute von der CIA, und die wären nicht so leicht zu übertölpeln.
Falls man in Langley die Nase voll von diesen Versteckspielchen hatte, konnte man Lily verhaften lassen, sobald sie aus dem Flugzeug stieg, wogegen sie nicht das Geringste unternehmen konnte. Normalerweise ging man in Langley allerdings deutlich diskreter vor. Man würde es so lange wie möglich vermeiden, die britische Regierung in etwas hineinzuziehen,
das
im
Wesentlichen
als
interne
Reinigungsaktion angesehen wurde.
Das Flugzeug landete und rollte direkt ans Gate. Lily atmete tief durch, und ihre neu gewonnene Kameradin tätschelte ihr beruhigend die Hand. »Keine Angst«, sagte sie fröhlich. »Das wird schon, Sie werden sehen. Woran kann ich erkennen, ob man Sie entdeckt hat?«
»Ich werde Ihnen die Männer zeigen. Ich werde nach ihnen Ausschau halten, bevor ich auf die Toilette gehe. Dann gehe
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