Moerderische Kuesse
Schultern hoch und sah sie betreten an. »Genau«, bestätigte er und ließ dabei seinen legendären Charme spielen. Er konnte ausgesprochen charmant sein, wenn es ihm gefiel. Wenn sie nicht gewusst hätte, wer er wirklich war, hätte sie sich vielleicht täuschen lassen; wenn sie nicht an jenen drei Gräbern gestanden hätte, in denen zwei enge Freunde und ihre Adoptivtochter gelegen hatten, hätte sie vielleicht philosophisch geschlossen, dass in ihrer Branche der Tod zum Berufsrisiko gehörte. Averill und Tina hatten gewusst, welches Wagnis sie eingingen, als sie sich auf dieses Spiel eingelassen hatten; aber die dreizehnjährige Zia war vollkommen unschuldig gewesen. Dass Zia gestorben war, konnte Lily nicht vergessen und schon gar nicht vergeben. Da half alles Philosophieren nichts.
Als sie drei Stunden später aufstanden und gingen, hatten sie ein luxuriöses Mahl verzehrt, und der gesamte Inhalt der Weinflasche schwappte in Salvatores Bauch. Es war kurz nach Mitternacht, und der Novemberhimmel spuckte wirbelnde Schneeflocken aus, die bei der ersten Berührung mit dem nassen Asphalt zerschmolzen. Lily fühlte sich elendig, aber das konnte genauso an der ständigen Anspannung liegen wie an dem Gift, das sich angeblich erst nach deutlich mehr als drei Stunden bemerkbar machen sollte.
»Ich glaube, mir ist irgendwas nicht bekommen«, sagte sie, als sie im Auto saßen.
Salvatore seufzte schwer. »Du brauchst dich nicht krank zu stellen, nur damit du nicht mitkommen musst.«
»Ich spiele dir nichts vor«, erwiderte sie scharf. Er drehte den Kopf zur Seite und starrte auf die vorbeiziehenden Lichter der Großstadt. Es war gut, dass er die ganze Flasche getrunken hatte, denn sie war ziemlich sicher, dass er sie nach diesem Abend endgültig abgeschrieben hatte.
Sie ließ den Kopf gegen die Nackenstütze sinken und schloss die Augen. Nein, das war keine Anspannung. Ihr wurde von Sekunde zu Sekunde schlechter. Sie spürte, wie der Druck in ihrem Hals zunahm, und sagte: »Lass bitte anhalten, mir wird schlecht!«
Der Chauffeur trat auf die Bremse – wie eigenartig, dass er angesichts dieser Drohung automatisch sein gesamtes Sicherheitstraining vergaß –, sie stieß die Tür auf, noch ehe der Wagen ganz ausgerollt war, beugte sich hinaus und übergab sich in den Rinnstein. Sie spürte Salvatores Hand auf ihrem Rücken und eine zweite als Stütze auf ihrem Arm, wobei er immer darauf achtete, sich nicht so weit nach vorn zu beugen, dass er von außen zu sehen war.
Nachdem sie unter Krämpfen ihren Magen entleert hatte, sank sie in den Wagen zurück und wischte sich den Mund mit dem Taschentuch ab, das ihr Salvatore schweigend reichte.
»Ich muss dich um Verzeihung bitten.« Sie erschrak, als sie hörte, wie schwach und zittrig sie klang.
»Nein, ich muss dich um Verzeihung bitten«, widersprach er.
»Ich habe dir nicht geglaubt, dass dir wirklich schlecht ist. Soll ich dich zu einem Arzt bringen? Ich könnte meinen Arzt anrufen –«
»Nein, es geht schon wieder«, log sie. »Bitte bring mich nur heim.«
Das tat er, unter vielen fürsorglichen Angeboten und dem Versprechen, sie gleich morgen früh anzurufen. Als der Fahrer endlich vor dem Gebäude hielt, in dem sie eine Wohnung gemietet hatte, tätschelte sie Salvatores Hand und sagte: »Ja, bitte ruf mich morgen früh an, aber küss mich nicht; vielleicht habe ich mir ein Virus eingefangen.« Mit dieser praktischen Entschuldigung zog sie ihren Mantel fester um sich und eilte durch die dichter fallenden Flocken zu ihrer Haustür, ohne sich ein letztes Mal nach dem anfahrenden Wagen umzudrehen.
Mit Mühe schaffte sie es in ihre Wohnung, wo sie im nächsten Sessel zusammenbrach. Sie konnte unmöglich ihre Habseligkeiten zusammenraffen und zum nächsten Flughafen rasen, wie sie es ursprünglich vorgehabt hatte. Vielleicht war es am besten so. Sich selbst in Gefahr zu bringen war manchmal die beste Tarnung. Wenn sie ebenfalls an Vergiftungserscheinungen litt, würde Rodrigo sie nicht verdächtigen und sich vielleicht nicht dafür interessieren, was aus ihr wurde, nachdem sie sich erholt hatte.
Vorausgesetzt, sie überlebte.
Ganz ruhig wartete sie ab, dass passieren würde, was passieren sollte.
2
Kurz nach neun Uhr am nächsten Morgen zersplitterte ihre Tür unter lautem Krachen. Drei Männer stürmten mit gezogenen Waffen herein. Lily versuchte, den Kopf zu heben, ließ ihn dann aber mit einem schwachen Stöhnen zurücksinken auf den Teppich, der das
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