Mörderische Triebe
wenn wir zu Ihrem Boss gehen und ihm sagen, dass Jules LeClerk etwa 450 Jahre alt ist und zudem zur Rasse der Vampire gehört?«, fragte Redcliff. »Was würde er sagen, wenn wir ihm von Vampiren berichten, die unter uns leben und niemals einen Menschen töten? Wenn wir ihm sagen, dass es aber auch andere Blutsauger gibt? Solche, die sich an die Spitze der Nahrungskette setzen wollen, um uns als Getränketüten zu missbrauchen?«
»Wollen Sie mich verarschen?«, fragte ich Redcliff. Meine Stimme klang nun laut. »Denken Sie, ich würde auf diesen Scheiß …«
Mein Blick fiel auf die junge Frau an Redcliffs Seite. Ihre Augen leuchteten rot, Hauer wuchsen aus ihrem Mund.
»Ich bin 276 Jahre alt«, sagte sie. Ihre Stimme war noch immer weich, aber nun schwang etwas Bedrohliches in ihr mit. Sie berührte mich – und plötzlich war es, als würde jede Gegenwehr in mir, jeder klare Gedanke einfach beiseite gefegt. Übrig blieb der Wille, ihr jeden verdammten Wunsch zu erfüllen. Mich ihr anzubieten. Als Objekt der Begierde, als Mahlzeit oder Dienerin.
Sie hielt den Bann nur Sekunden aufrecht, aber als sie ihn löste, begann ich zu begreifen. Ihre Augen und die Hauer – das war kein Trick gewesen.
»Wir verlegen Sie in unsere Zentrale in Mount Paxton, Maine. Dort werden Sie einen Lehrgang absolvieren und die Basics unserer Arbeit kennenlernen, ehe wir Sie einem erfahrenen Deputy Marshal zuordnen. Natürlich nur, wenn Sie annehmen, was wir Ihnen bieten.«
»Und wenn nicht?«, fragte ich frustriert, gleichzeitig aber auch verwirrt.
»Grab 1198 – dritte Reihe im vierten Quadrant des Gefängnisfriedhofs. Sie können entweder Lara Meyer sein – und in einer Urne auf das jüngste Gericht warten, oder Sie sind Lara Phönix und leben ein neues Leben im Dienste des USMS – Abteilung für Spezialfälle. Geistige Kontrolle durch Vampire wird vor keinem Gericht der Welt als mildernder Umstand anerkannt. Sie haben gemordet – dieser Fakt rechtfertigt Ihre Exekution.«
»Sie sind ein elender Mistkerl!«, ließ ich Redcliff wissen. »Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie mir diese Scheiße passieren konnte. Ich fühle keine Schuld. Und Jules … Dennoch tun Sie so, als träfe mich eine Mitverantwortung.«
»Seien Sie froh, dass wir uns Ihre Fähigkeiten zunutze machen wollen«, erwiderte Redcliff kalt. »Jeden anderen hätten wir seinem Schicksal überlassen. Es ist nicht unsere Schuld, dass die Welt auf andere Weise funktioniert, als es das Gros der Menschen glaubt. Wir sind keine Altruisten, sondern verhindern nur das Schlimmste. Der Tod eines unschuldig Verurteilten ist nicht das Schlimmste .« Er lächelte sarkastisch. »Aber seien Sie versichert, dass wir Gegner der Todesstrafe sind und jede Petition unterschreiben, die sich mit diesem Thema befasst.«
»Sie sind kein Mistkerl«, zischte ich. »Sie sind ein elender Wichser.«
Er stand auf und lachte. Dann verließ er den Raum.
Die junge Frau – die Vampirin, die sehr viel älter ist als gedacht – blieb zurück. »Er ist ein Schwanz. Aber man muss auch ein Schwanz sein, um diese Abteilung zu leiten.«
»Und man muss einen haben, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Seine Stellvertreterin hat keinen.« Damit stand sie auf, nahm meine Hand und legte sie zu meinem Erstaunen auf ihren Schritt. »Siehst du? Kein Schwanz!«
III
Ein Monat später.
Mount Paxten war nicht minder geheim wie die Spezialabteilung des United States Marshals Service. Wahrscheinlich wussten die wenigstens, dass es diese Abteilung überhaupt gab. Jene, die für sie arbeiteten, und jene, die das Budget zur Verfügung stellten.
Die Anlage des USMS befand sich in einem Berg, gehauen aus dem massiven Stein, der auch stärksten Angriffen trotzen konnte.
Errichtet hatte die Anlage das US-Militär, um wichtige Personen im Falle eines Nuklearkriegs in Sicherheit bringen zu können. Bilder von der alten Anlage zeigten große Monitore, auf denen anfliegende Raketen ebenso angezeigt werden konnten wie Bilder zerstörter Städte. Ein Raum für Pressekonferenzen war vorhanden gewesen, dazu Konferenzräume, private Bereiche und eine EDV-Anlage, so groß wie ein verdammtes Einfamilienhaus.
Hätte man auf ihr jedoch WoW spielen wollen, wäre sie in die Knie gegangen. Es war wohl leichter, einen Atomkrieg mit Millionen oder Milliarden Opfern zu berechnen, als die Grafik eines MMOs.
Mit dem Ende des Kalten Krieges hatte die Army mehrere dieser geheimen, besonders sicheren Zentren aufgegeben.
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