Mörderische Weihnacht
lieber der Meditation als dem Schlaf zu widmen. Der Morgen hatte ihm reichlich Stoff zum Nachdenken gebracht, und am besten konnte er in der Einsamkeit seines kleinen Königreiches überlegen.
Da hätten wir also den neuen Priester für die Gemeinde vom Heiligen Kreuz, dachte er. Warum aber hat Bischof Henry uns einen seiner Schreiber gegeben, den er noch dazu sehr schätzte? Einen Mann, der die gleichen beachtlichen Qualitäten wie sein Herr entweder von Geburt an besessen oder durch verehrungsvolle Nachahmung erworben hatte? Ist es möglich, daß zwei erfahrene, selbstbewußte und stolze Männer zuviel für ein Haus geworden waren, so daß Henry sich gern von ihm getrennt hatte? Oder sollte der Legat nach der Demütigung einer zweimaligen Rücknahme seiner Worte in ein und demselben Jahr und nach der daraus entstandenen Beschädigung seines Ansehens entschlossen sein, jede Gelegenheit zu ergreifen, um seine Bischöfe und Äbte zu umwerben, indem er mit väterlichem Wohlwollen ihre Wünsche und Bedürfnisse befriedigte? Wollte er ihnen mit derlei Aufmerksamkeiten schmeicheln, um ein festes Bündnis zu schmieden? Schon möglich, dachte Cadfael, und er mochte sogar bereit sein, einen wertvollen Schreiber zu opfern, um sich der Unterstützung eines Mannes wie Radulfus zu versichern.
Aber eines steht fest, schloß Cadfael überzeugt, unser Abt hätte sich nicht auf so eine Ernennung eingelassen, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, einen Mann zu bekommen, der die Aufgabe auch bewältigen konnte.
Cadfael hatte die Augen geschlossen, um besser nachdenken zu können, und lehnte, die Füße mit den Sandalen übereinandergeschlagen und die Hände in den Ärmeln seiner Kutte gefaltet, gemütlich an der Holzwand. Er regte sich nicht, und der junge Mann, der über den Kiesweg herankam, glaubte, daß er schliefe. Diesen Fehler hatten schon andere begangen, die sich nicht vorstellen konnten, daß ein wacher Mann so still sitzen konnte. Doch Cadfael hatte sehr wohl die vorsichtigen, leisen Schritte gehört. Es war kein Bruder, und die Laienbrüder, von denen es ohnehin nicht viele gab, verirrten sich nur selten in den Kräutergarten. Außerdem würden sie nicht so vorsichtig auftreten, wenn sie einen Botengang zu erledigen hätten. Es waren keine Sandalen, sondern alte, abgetragene Schuhe, deren Träger wohl glaubte, daß sie sich lautlos bewegten; und tatsächlich wäre kaum etwas zu vernehmen gewesen, hätte Cadfael nicht das Gehör eines wilden Tieres besessen. Die Schritte hielten vor der offenen Tür inne, und einen langen Augenblick herrschte völliges Schweigen. Jetzt mustert er mich, dachte Cadfael. Nun, ich weiß wohl, was er sieht, wenn auch nicht, was er sich dabei denkt: einen über sechzigjährigen Mann von bester Gesundheit, ohne die Steifheit in den Gelenken, die man in diesem Alter erwarten müßte, vierschrötig gebaut und mit kantigem Gesicht, drahtiges braunes, grau durchsetztes Haar, das wieder einmal geschnitten werden müßte - gut, daß ich daran denke! Und eine Tonsur, die seit vielen Jahren bei Wind und Wetter an der Luft war. Er schätzt mich ein, er mißt mich ab und läßt sich Zeit dabei.
Er öffnete die Augen. »Auch wenn ich wie ein Bullenbeißer aussehe«, erklärte er freundlich, »ist es schon lange her, daß ich jemanden gebissen habe. Tretet nur ein, keine Sorge.«
Die Begrüßung traf den Besucher so unerwartet und plötzlich, daß er nicht der Aufforderung Folge leistete und eintrat, sondern erschrocken einen Schritt zurückfuhr, bis er im vollen Mittagslicht stand und gut zu sehen war. Ein junger Bursche war es, höchstens zwanzig Jahre alt, mittelgroß und kräftig gebaut, gekleidet in eine faltige Hose von unbestimmbarer brauner Farbe. An den Füßen abgestoßene, flache Lederschuhe, ein dunkelbrauner Rock, an den Ellbogen etwas abgewetzt, mit einem verschlissenen Seil gegürtet, und darüber ein kurzer Umhang, dessen Kapuze auf die Schultern zurückgeworfen war. Das grobe Leinen seines kragenlosen Hemds lugte am Hals hervor, und die Ärmel seines Rocks waren ihm etwas zu kurz, so daß über den kräftigen braunen Händen ein Stück des bleicheren Unterarms zu sehen war. Ein gedrungener kräftiger junger Mann war es, der dort zu bewundern war, und nachdem der erste Schreck vergangen war, schien selbst ein längeres, schweigendes Begutachten ihn eher zu beruhigen als zu verunsichern, denn nun flammte ein kleiner Funke in seinen Augen auf, und sein Mund verzog sich zu einem
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