Mörderische Weihnacht
bringen.
»Geht jetzt, ihr guten Leute«, sagte der Abt, der etwas unwirsch dieser Notwendigkeit gehorchte. »Sprecht Eure Gebete für die Seele von Vater Ailnoth und vergeßt dabei nicht, daß uns die Fehltritte unserer Nächsten an die eigenen Fehler erinnern sollen. Geht und vertraut auf uns, in deren Händen das Geschick dieser Gemeinde liegt, daß wir Eure Nöte bei allem berücksichtigen werden, was wir beschließen.« Und er segnete die scheidenden Menschen mit einer Heftigkeit und Knappheit, die sie wirklich sofort in Bewegung brachte. Immer noch schweigend schmolz die Menge wie Schnee, aber bald würde es reichlich Worte geben. Stadt und Vorstadt würden unter den vielen und widersprüchlichen Berichten über diesen Morgen widerhallen, und die ganze Geschichte würde sich schließlich ausnehmen wie ein Märchen, eine Erinnerung des Volkes an Dinge, die irgendwann vor langer Zeit tatsächlich einmal jemand miterlebt hatte.
»Und Ihr Brüder«, sagte Radulfus knapp, indem er sich an seine eigenen Schäfchen wandte - Tauben mit zerzausten Federn und verstummtem Gurren - »Ihr sollt jetzt wieder Eurem Tagewerk nachgehen und Euch aufs Mittagsmahl vorbereiten.«
Ihre Reihen lösten sich beinahe ängstlich auf, und sie zerstreuten sich wie die anderen Menschen, scheinbar ziellos am Anfang, um sich allmählich den Plätzen zu nähern, an denen sie jetzt sein sollten. Wie die Funken aus einem Feuer oder wie vom Wind getriebener Staub wehten sie, von der Enthüllung immer noch halb benommen, davon. Der einzige, der seinen Pflichten zielstrebig und methodisch nachkam, war Cynric, der unter der Mauer eifrig mit dem Spaten beschäftigt war.
Bruder Jerome, tief verstört von Vorgängen, die so gar nicht zu seiner Vorstellung von der Anwendung der Ordensregel und dem Leben in einem Benediktinerkloster paßten, fing einige seiner streunenden Küken ein und scheuchte sie ins Lavatorium und in den Speisesaal und wies bei dieser Gelegenheit auch gleich einige saumselige Gemeindemitglieder aus den Mauern der Abtei. Als er dabei nahe an die weit geöffneten Tore kam, bemerkte er einen jungen Mann, der draußen auf der Straße stand und das Zaumzeug eines Pferdes hielt. Der Bursche beobachtete die Menschen, die aus dem Kloster kamen, mit neugierigen Blicken, aber sein Kopf war unter einer eng angezogenen Kapuze verborgen, so daß sein Gesicht im Schatten blieb. Allerdings war etwas an ihm, das Jeromes scharfe Blicke fesselte. Etwas, das er nicht ganz erkannte, weil Mantel und Umhang fremd und das Gesicht störrisch abgewendet waren, und doch etwas, das ihn an einen gewissen jungen Burschen erinnerte, der eine Weile unter den Brüdern gelebt hatte und später unter seltsamen Umständen verschwunden war. Wenn der Bursche nur sein Gesicht herumdrehen würde!
Cadfael, der abgewartet hatte, um Sanan und Diota nachzublicken, bemerkte, daß sie sich plötzlich in den Schatten an der Mauer der Kapelle zurückzogen und warteten, bis sich der größte Teil der Menge in der Vorstadt verstreut hatte.
Sanan hatte den Anstoß dazu gegeben; er sah, wie sie der älteren Frau eine Hand auf den Arm legte, um sie zurückzuhalten. Diota schien über die Verzögerung verwundert.
Hatte Sanan in der Menge jemanden gesehen, dem sie auf keinen Fall begegnen wollte? Cadfael suchte die Rücken der hinausströmenden Menschen nach einer solchen Person ab und bemerkte schließlich den einzigen, dessen Anwesenheit hier alles andere als willkommen war. Hatte Sanan nicht wie Diota die Haube ihrer Kapuze eng ums Gesicht gezogen, während Cadfael unterwegs gewesen war? Als wollte sie vermeiden, von jemandem bemerkt und erkannt zu werden?
Nun folgten die beiden Frauen hinter den Nachzüglern, aber sie bewegten sich vorsichtig und langsam, und Sanans Augen ruhten wie gebannt auf dem Rücken des großen Mannes, der beinahe die offene Tür erreicht hatte. So sahen Sanan und Cadfael im gleichen Augenblick auch Bruder Jerome, der noch einen Augenblick zögerte, bevor er zielstrebig zur Straße hinausging. Und diese beiden sehr unterschiedlichen Rücken, der eine aufrecht und zuversichtlich, der zweite mager und gebeugt, näherten sich dem Pferd, das draußen auf der Straße von einem jungen Burschen am Zaumzeug gehalten wurde.
Bruder Jerome war immer noch nicht ganz sicher, aber er war entschlossen, sich Gewißheit zu verschaffen, auch wenn er dazu das Abteigelände ohne triftigen Grund oder Erlaubnis verlassen mußte. Es wäre Rechtfertigung genug,
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