Mörderischer Stammbaum
er seinen Ohrring — falls er einen
hat — vermutlich im Schmuckkästchen und nicht verloren. Vielleicht rastet
Bierröder aus bei unserem Anblick. Vielleicht können wir ihn so provozieren, so
herausfordern, dass er sich verrät. Ich will damit sagen, wir brettern hin und
beäugen sein Umfeld.“
„Und im Internat setzt man uns
auf die Vermisstenliste“, seufzte Klößchen.
Naja, dachte Tim. Heute ist
Freitag. Also müssen wir den uralten Trick wieder ins Spiel bringen. Eingeladen
von Karls Eltern. Wir übernachten bei Viersteins. Wie schon ungezählte Male.
Das ist ja mittlerweile so eingeschliffen, dass der Erzieher vom Dienst dort
nicht mal mehr nachfragt,
Tim griff wieder zum Hörer,
benutzte seine Telefonkarte, auf der noch ein paar Einheiten waren, wurde mit
der renommierten Internatsschule verbunden, wurde durchgestellt zum EvD und
erklärte ihm, einem jungen Assessor, der bei Aufregung lispelte, was angeblich
Sache war.
„Gut, Tim!“, war die Antwort.
„Ihr seid also bei Viersteins. Hiermit erteile ich euch die Erlaubnis. Ist es
nur für eine Nacht oder fürs ganze Wochenende?“
„Das wissen wir noch nicht,
Herr Dr. Gutknecht. Das hängt davon ab, hahahah, wielange uns Karls Mutter
erträgt?“
Assessor Gutknecht ermahnte
ihn, morgen abermals Mitteilung zu machen. Dann rief Karl seine Mutter an und
informierte sie über den Besuch. Frau Vierstein freute sich. Sie würde in Karls
Zimmer die beiden Notbetten — wacklige Liegen — aufklappen und die Zahnbürsten
für Tim und Klößchen bereitstellen.
Vogelfrei!, dachte Tim. Nicht
sturmfreie Bude, sondern sturmfreier Ausgang. Aber wir wollen ja nicht
rumdümpeln in Diskos oder miese Filme sehen, sondern unseren Einsatz leisten.
Vielleicht hilft es den Tauben. Und bringt den Beißer zur Strecke. Für solche
Ziele ist jede Überstunde toll angelegt.
Sie bikten in nordöstliche
Richtung. Der Abend war kalt. Die Luft roch nach Schnee. In den
Geschäftsstraßen war jetzt, nach 20 Uhr, kaum noch Betrieb. Aber dann
passierten die Kids das Rotlichtviertel der Stadt — jene Gegend also, wo sich
eine Bar an die andere lehnt, wo die Halb- und die Unterwelt zu Hause ist und
die Polizei gern Razzien macht. Dort herrschte Betrieb. Dort konnte von
geschäftlicher Flaute nicht die Rede sein. Zocker und Dealer hatten Konjunktur.
Leichtenstetter Straße.
Sie war schnurgerade und schien
endlos zu sein. Mit kleinen Häusern, die sich stark ähnelten. Kahle Bäume
entlang der Fahrbahn zu beiden Seiten. Tim äugte nach den Hausnummern und hielt
vor Nummer 144.
Ein Einfamilienhaus mit hellem
Verputz. Licht hinter den Parterrefenstern. Drei Meter Garten zwischen Gehsteig
und Haustür.
„Ich greife deine Idee auf,
Willi“, sagte Tim. „Mit dem verlorenen Ohrring. Ich werde Bierröder sagen, den
hätte er mittags im Belmorte-Park verloren. Bei seiner Bauchlandung. Und dann
ziehe ich ihm blitzschnell die Unterlippe runter.“
„Die... was?“, fragte Klößchen.
„Die Unterlippe! Um zu sehen,
ob ihm ein Zahn fehlt.“
„Richtig! Dem Beißer fehlt ja
einer. Hätte ich beinahe vergessen.“
Tim fand eine Büroklammer in
der Tasche und formte daraus einen Ohrring, für den sich jeder
Schmuckhersteller geschämt hätte. Aber als Köder würde das Gebilde seinen Zweck
erfüllen.
Karl hielt Tims Tretmühle. Der
TKKG-Häuptling vergewisserte sich an der Haustür, dass die Adresse wirklich die
richtige war. Sie war’s. Helmut und Gudrun Bierröder wohnten hier. Tim
klingelte.
Im Haus wurde eine Tür
geöffnet. Fast lautlose Schritte näherten sich. Das war entweder Gudrun oder
Bierröder trug Hauslatschen mit superweichen Sohlen.
„Wer ist dort?“, fragte eine
weibliche Schrillstimme hinter der Tür.
„Mein Name ist Peter Carsten.
Ich bitte um Vergebung für die späte Störung. Aber ich würde gern Ihren Mann
sprechen.“
„Helmut... also, mein Mann ist
nicht da.“
„Wie bedauerlich.“
„Worum geht es denn?“
Sie machte keine Anstalten, die
Tür zu öffnen. Entweder eine ängstliche Natur, dachte Tim. Oder sie ist schon
im Nachthemd.
„Ihr Mann, Frau Bierröder, hat
heute Mittag seinen Ohrring verloren: im Belmorte-Park, wo ich zufällig seinen
Weg kreuzte. Ich habe den Ohrring gefunden und möchte ihn abliefern. Aber keine
Sorge! Ich beanspruche keinen Finderlohn.“
Die Tür wurde geöffnet.
„Den Ring können Sie auch mir
geben“, sagte Gudrun Bierröder — und streckte die Hand aus.
Super!, dachte Tim. Er trägt
also Klunkern am
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