Mörderischer Stammbaum
Lauschlappen, der Taubenmörder. Das hat seine bessere Hälfte
soeben eingestanden.
Sie war klein, dünn und
unscheinbar. Das fast farblose Haar war nur kurzgeschnitten und sonst nichts.
Sie war sicherlich erst Ende Dreißig, aber vergrämt wie nach 70 Kummerjahren.
Das hatte Linien in das kleine Gesicht gegraben. Außerdem war sie kurzsichtig.
Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.
Für eine Zehntelsekunde hielt
ihr Tim den Büroklammer-Ohrring hin auf flacher Hand. Dann schloss er die
Faust.
„Wissen Sie, Frau Bierröder“,
er strahlte sie an. „Ich mache so gern Freude. Das genieße ich regelrecht.
Deshalb möchte ich Ihrem Mann den Ohrring persönlich überreichen. Und ihm auch
mein Mitgefühl ausdrücken für den ausgebrochenen Zahn.“
„Wofür?“ Sie blinzelte.
„Ich hörte, er habe sich heute
Mittag im Belmorte-Park einen Zahn ausgebrochen.“
„Tatsächlich? Davon weiß ich
noch gar nichts. Allerdings habe ich Helmut seit heute früh nicht gesehen. Ich
bin erst nach 20 Uhr von der Arbeit gekommen. Da war Helmut schon weg zu seiner
Gymnastik. Er geht freitags immer ins Fitness.“
Tim lächelte breit. „In welches
Gym-Studio?“
„In die Herkules-Arena. So
heißt es, glaube ich. In der Lobben Straße. Er bleibt immer sehr lange und
trinkt mit Freunden Gemüsesäfte an der Studio-Bar, wenn das Training beendet
ist.“
„Sehr vorbildlich. Also sehe
ich dort mal vorbei. Schönen Abend noch, Frau Bierröder.“
Sie schloss die Tür. Tim
dämpfte die Stimme, als er bei seinen Freunden war.
„Er trägt Ohrringe! Und spult
seinen Tageslauf ab, als wäre alles wie immer. Wozu macht er Gymnastik? Will er
abnehmen? Das wirkt ja nicht mal bei dir, Klößchen. Und du bist noch im
Wachsen. Wahrscheinlich übt er am Boxsack wie man auf Tauben einschlägt.“
„Ich wünsche ihm“, zischelte
Gaby, „dass er sich die Arme auskugelt. Ob dann ein anderer für ihn einspringen
würde?“
„Ich glaube“, erwiderte Tim,
„es gibt nicht viele, die dazu bereit wären. Einige sicherlich. Die haben die
Grausamkeit voll drauf und zucken dabei mit keiner Wimper. Unsereinem bleibt
der Atem weg. Aber die Mehrzahl der Leute sagt nur ,Ach, wie furchtbar!’ — und
wendet sich ab. Weil sie Scherereien befürchten, wenn sie sich einmischen. Und
genau daran krankt die Welt. Fast jeder kann erkennen, was gut und was schlecht
ist — Grenzfälle mal ausgenommen. Aber entsprechend zu handeln — das ist eine
andere Sache.“
„Herkules-Arena“, sagte Karl
„klingt nach Kraftsportverein. Vielleicht züchten Bodybuilder dort ihre
Anabolika-Muskeln.“
„Ihre... was?“, fragte
Klößchen.
„Ihre mit Anabolikum
aufgeblasenen Muskeln“, erläuterte Karl. „Das ist ein Medikament. Aber ein
schädliches. Es fördert zwar den Muskelzuwachs, hat aber katastrophale
Nebenwirkungen, die bis zum Tode führen können. Dass du nach Einnahme von
Anabolikum nicht mehr richtig pieseln kannst, ist noch das Wenigste.“
„Ich nehme diesen Dreck nicht“,
meinte Klößchen. „Ich stehe auf Schokolade. Die bildet zwar keine Muskeln,
verhilft aber zu Fett.“
„Also zur Lobben Straße“, sagte
Tim und schwang sich aufs Bike.
Es war nicht weit. Die
,Herkules-Arena’ befand sich im Obergeschoss eines Geschäftshauses und nahm
dort offenbar die gesamte Etage ein. Die straßenseitigen Fenster waren
erleuchtet, bestanden aber aus geriffeltem Mattglas. Man konnte nicht
hineinsehen. Im Erdgeschäft waren drei Läden untergebracht, die jetzt
geschlossen hatten. Das elegante Kind — Mode für die Zwei- bis Sechsjährigen.
Lebkuchen-Paradies — außerdem wurde dort weihnachtlich duftender Tee verkauft —
und ein Video-Verleih, der im Schaufenster mit blutrünstigen Horror-Plakaten
warb.
Gaby begleitete ihren Freund.
Das Treppenhaus roch nach Reinigungsmittel. Auf dem Treppenabsatz verkümmerte
eine Zimmerpalme. Im Vorbeigehen berührte Gaby die Erde im Kübel. Sie war
trocken und Aschenbecher zugleich für zwei Dutzend Zigarettenreste.
„Arme Pflanze!“, sagte Gaby.
„Wahrscheinlich drücken Typen wie Bierröder hier noch schnell ihren
Glimmstengel aus, bevor sie sich im Gym als Sportsmann aufspielen.“
„Sowas wird man nicht durch
Anabolika. Sowas fängt an bei der inneren Einstellung, bei der Gesinnung. Der
Lebenswandel gehört dazu, Gesundheitsbewusstsein, Fairplay und Rücksichtnahme
auch im Alltag, Disziplin und Härte gegen sich selbst.“
„Was kann einer wie Bierröder
davon einbringen,
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