Mörikes Schlüsselbein
seine Umgebung räumlich vorzustellen. Ihm war zuerst, als wäre er in seinem eigenen Schlafzimmer: Die Tür führte ins Wohnzimmer und dann ginge es weiter zum Flur und von dem aus gäbe es nach links das Gästezimmer (das nun als Marinas Schreibzimmer dient) und rechter Hand wäre dann sein Arbeitszimmer/Bibliothek. Küche, Klos, Dusche und Bad wären die Blätter und Staubfäden dieser Wohnblume:
Klo
/
Bad
Schlafzimmer
Wohnzimmer
Arbeitzimmer
Flur
Gästezimmer
Flur
Flur
Flur
Klo / Dusche
Küche
Flur
Flur
Aber der wirkliche Raum um ihn herum war das nicht. Mühsam zog er die überflüssigen Wohnräume weg aus der imaginären Bildfläche, wie mit einem zögerlichen Cursor. Verschob die Küche in das Wohnzimmer: eine Kochnische. Zog die Tür zu Klo-und-Dusche näher zum Bett. Fertig! Das Bild fiel mit der Realität zusammen. Er befand sich in Lauras Einzimmerwohnung. Der Cursor flog flink aus dem Sichtrahmen hinaus.
Kochnische
Balkon Zimmer Flur
Klo / Dusche
Professor Bach öffnete die Augen. Vor der Balkontür stand Laura, viele grüne Lider der Hinterhofbäume zwinkerten hinter ihr, sie selbst war kaum zu sehen, vom dichten Junilicht umhüllt. Nur ein Schattenriss: ein langer Körper und ein kleiner runder Kopf, das dunkle Haar stramm zum Nacken gezogen und zu einem Knoten gebunden, wie bei der Flamencotänzerin gestern im Film, die aber alt und zäh aussah, während Lauras Schattenriss Jugend und Frische ausstrahlte. Sie drückte ihre Zigarette aus und murmelte, die Vokale in die Länge ziehend, aus dem Film gestern:
El que se tenga por grande
Er, der meint größer als die anderen zu sein,
Sie wollte den Film unbedingt sehen,
que se vaya al cementerio
muss zum Friedhof gehen,
weil ihre Flamencolehrerin ihn ihr empfohlen hatte –
y verá lo que es el mundo
dort wird er sehen, wie die Welt in der Tat ist —
wegen dieses Liedes, das ihre Flamencolehrerin kannte und großartig fand und das Laura deshalb ebenfalls bereits kannte.
es un palmo de terreno.
eine Handvoll Dreck.
Wie war es für sie, Haut an Haut mit einem alten (mit seinem, dachte er gegen Widerstand) Körper zu sein? Wie was? Er fühlte sie an seiner Haut nicht ganz real – wie Zukunft (bevor sie die unsichtbare Pforte der Gegenwart durchsickert und zur starren Vergangenheit wird). Sie sollte ihn an ihrer Haut ein wenig abgestanden spüren, wie (k)alten Rauch. Wie Vergangenheit. Doch logisch wäre es anders: Ihre Jugend ist für ihn seine Vergangenheit. Sein Alter ist für sie ihre Zukunft. Er war plötzlich so gerührt, von ihrer Jugend, von der Erinnerung an die Nacht, die nun in allen zu einem einzigen Bild gesammelten Einzelheiten erschien, wie ein Baum sich aus seinen Ästen bildet, und ein Ast aus seinen Blättern, dass er fast weinen musste.
es un palmo de terreno.
eine Handvoll Dreck.
Er erinnerte sich auch an gestern Abend, wie sie auf dem Balkon beim Rotwein saßen, wie sie da saß und er aus der Toilette zurück kam, sich zu ihrem offenen Haar neigte und meinte, ihre junge Frische an ihren Haaren zu riechen. Doch das war nur der scharfe Geruch des alten Rauchs. Darauf sagte er, und das war beschämend dumm, »du rauchst viel«.
PAPIERENES MÄDCHEN / SINGENDER TOD
Der Tag war dahin, sagte ihm die Dämmerung vor dem Fenster.
Wenn du deinen Tag planst, dachte er, hast du vor dir so etwas wie ein Poster mit der Darstellung der Rinderteile in einer Metzgerei: Formen und Figuren, auf ein in passiver Erwartung seiner Zerteilung stehendes Vieh aufgetragen. Aber der Tag läuft selten nach Plan: Die Teile ändern ihre Formen und gehen durcheinander. Gegen Abend wird aus einem Rind ein Fabeltier, das dich vorwurfsvoll anschaut ( Wozu habe ich sechs Beine, drei Hodensäckchen und fünf Flimmerflügelchen, wenn ich doch kein Insekt bin, denkt das Tier). Fjodor sah auf die Wanduhr.
Er, der immer unruhig wurde, wenn Natascha zehn Minuten später kam, als er dachte, dass sie kommen würde, besonders seit Maschas Geburt, geriet in Panik.
Er wusste nicht, wohin er sein Handy tun sollte, und jede Bewegung war ihm zu anstrengend.
PAPIERENES MÄDCHEN / SINGENDER TOD
Heute Morgen war Laura sich ihres Körpers in jedem seiner Partikel bewusst. Jeder Muskel war konzentriert und in seiner eigenen Kraft eingeschlossen. Dieses Körpergefühl muss eine echte Flamencotänzerin haben, dachte sie.
Der, den sie liebte, den sie vielleicht noch seltener sah, als sie Andreas sah, hatte ihr zu Weihnachten Flamencoabendkurse für ein Jahr
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