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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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geschenkt. So stampfte sie fleißig einmal in der Woche, ihrer Liebe wegen. Sie bewunderte ihre Flamencolehrerin (die der, den sie liebte, als eine den Dolchstoß überlebende und folglich gealterte Carmen bezeichnete, als er einmal so nett war, sie nach der Tanzstunde abzuholen, bei einem seiner seltenen Berlinbesuche), war aber eine schlechte Schülerin. Sie konnte dieses konzentrierte Körpergefühl beim Flamencostampfen nie erreichen. Eher schon mit dem, den sie liebte. »Ich war in dich verliebt«, dachte Laura. Sie dachte, dass sie das Andreas sagen könnte, gerührt von diesem »Flamencogefühl«. Sie fragte sich, ob dieses »war« auch dem, den sie liebte, galt, ob sie von ihrer sinnlosen Liebe nun befreit wurde. Nein, wurde sie nicht. »Fliegen«, sagte Laura. »In diesem Jahr gibt es zu viele Fliegen. Kaffee? Soll ich Brötchen holen? Dusch dich, ich hole Brötchen.« »Es un palmo de terreno«, sang sie etwas falsch, während sie den Schlüssel und die kleine rotlederne Geldbörse, ein Geschenk von dem, den sie liebte, in die Tasche tat.
    PAPIERENES MÄDCHEN / SINGENDER TOD
    »Wieso spät? Es ist früh«, sagte Natascha erstaunt. »Was ist? Was? Ich bin … Nein, warte, wir kommen gleich, warte, bleib da!« Sie schrie.
    Das Trennsignal piepste. Warum schreist du , dachte Fjodor und schaute noch einmal nach der Uhrzeit. Die Zeiger zeigten etwas Unnützes. Wieso spät , wiederholte er Nataschas Frage. Wieso spät. Wieso ist es so dunkel hier , dachte er.
    PAPIERENES MÄDCHEN / SINGENDER TOD
    Andreas war noch aus der Dusche als Wasserschwappen zu hören (nur als Wasserschwappen; der, den sie liebte, schnaufte in der Dusche, putzte sich posaunisch die Nase, klatschte seine nassen Oberschenkel ab). Laura stand neben ihrem Schreibtisch, an dem sie so viele Stunden gesessen und an ihren Fingerknöcheln genagt hatte, ohne einen einzigen Satz aus ihrem Kopf in ihre Magisterarbeit versetzen zu können. Nicht einmal »NN schrieb am Xten Dezember 18** einen Brief, in dem er XX (mit der Begründung, seine Umstände seien so eng, dass er nicht in der Lage sei, sein Zimmer zu bezahlen) um einen Vorschuss bat«. Sollte es lieber heißen: »Wie eng NNs Umstände gegen die Jahrhundertwende waren, sehen wir zum Beispiel aus seinem Brief vom Xten Dezember 18** an seinen Verleger: ›Zitat…..Zitatende‹«? Oder: »Der Verleger XX war so ignorant, dass NN ihn mehrmals um einen Vorschuss bitten musste.« Doch die Tasten blieben unberührt, der Bildschirm wurde dunkel, der Computer wechselte in den StandbyModus, Abdrücke ihrer Zähne umklammerten ihre Fingerknöchel. »Ich will nicht mehr«, sagte sie laut. Rechts neben dem Tisch standen im Regal alle Bücher von dem, den sie liebte, auf deren Rücken sie öfter die zwei Wörter Caspar Waidegger las. Er selbst war für sie beinah zum Buch geworden, dachte sie, ein papierener Freund mit papierenem Herzen (amigo de papel con un corazón de papel). Um sie herum, in diesem Zimmer jetzt und immer und überall, hingen die spärlichen Erinnerungen an jedes Mal, wenn sie sich sahen (Spinngewebe im Altweibersommer). Jedes Mal so viele Male in ihrem Kopf wiederholt, dass jedes dieser Male durch dieses Wiedererleben ausgelaugt, durchscheinend geworden war, kristallisiert und brüchig. Verkrusteter Schaum der Tage.
    PAPIERENES MÄDCHEN / SINGENDER TOD
    Mit Staunen erinnerte sich Fjodor daran, dass er gestern überhaupt nicht getrunken, sondern nur gelesen hatte, dass der Abend sonst nur aus Nataschas Gezwitscher und Maschas Lallen bestanden hatte. Dass es überhaupt ein Junimorgen und kein Dezemberabend war. Das Küchenfenster führte in einen hohen und von Bäumen, Blumen und Gras, also auch von den Jahreszeiten freien Petersburger Innenhof. Nur die aus den benachbarten Straßen angewehte Pappelwolle lag weiß in den Ecken.
    Die Wanduhr blieb unsinnig. Die Zeit hat ausgetickt, dachte Fjodor und hörte von allen Seiten einen undeutlichen Lärm, der immer ein Vorbote eines Gedichtes war. Als er noch Gedichte schrieb. Nur war das, was früher war, leiser, mehr Rhythmus als Melodie, ferne Rufe und Trommeln, von denen du fast nur eine Vibration vernimmst. Die Töne wurden immer greller, der Rhythmus ging in einen aufdringlichen Singsang über. Als verlangte er nach etwas.
    Ein Gedicht? Er würde sich freuen, wie er sich immer darauf freute. Aber ihm war zu übel für diese Anstrengung, für das Eingehen auf diesen dreisten Rhythmus. Sei still, du , dachte er, und hörte Nataschas Schlüssel

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