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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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verschollen sind?«
    Alle lachten, als wäre das zum Spaß gefragt worden, denn solche Fragen stellt man nicht.
    »Einer sitzt in einem tropischen Land im Gefängnis. Der Fall wird von unseren Anwälten geklärt. Ein anderer hat sich noch nicht gemeldet. Wir suchen nach Hinweisen. Und der Dritte wurde in russischen Hoheitsgewässern von Grenzern vor einem Hai gerettet, nun aber sollen sie ihm abkaufen, dass er ein in Japan ins Meer gestiegener Hobbytaucher sei. Wir arbeiten dran. Es wird schon.«
    ZEITSCHLEIFE
    »Schließen Sie am besten die Augen, entspannen Sie sich. Die Reise beginnt. Sie werden eventuell leichte Übelkeit verspüren und es kann Ihnen ein bisschen schwindlig werden, vielleicht etwas Ohrendruck. Nichts Schlimmes, keine Angst. Nach dem verabredeten Piepton (hier noch einmal: piep ) Augen öffnen, die Kapsel verlassen, sie zusammenfalten und – handeln.«

    ♦

    Wie groß kann eine Lücke in der Zeit sein? Wie kannst du Zeit messen in einem zeitlosen Raum?
    Einer hört also aus der Gefängniszelle dem Regenjazz auf den Bananenblättern zu oder beobachtet aus dem tiefen Fenster eine Maus auf der violetten Stulpe einer Kannenpflanze, wie sie vom süßen Geruch zittert, in der Aufregung einen falschen Schritt macht und in die Verdauungspfütze stürzt. Dem Häftling erscheint die in einer fleischfressenden Pflanze gefangene Maus deshalb so ekelhaft, weil der Vorgang die gewohnte Logik der Nahrungskette verletzt: Grashalm – Kuh – Mensch. Oder: Grashalm – Grashüpfer – Rotkehlchen – Uhu – Fuchs. Und wenn diese hierarchische Kette der Wesen unterbrochen wird: Grashalm – Grashüpfer – Rotkehlchen – Schlange – Igel – Uhu – Fuchs, also wenn eine Schlange dazwischen kommt und einen Igel mitbringt, wird dieser Zickzacksprung als eine infame Aktion empfunden und die Schlange zum Erzfeind des Menschen erklärt. Das ist so, wie wenn die Kühe beginnen würden die Menschen zu fressen. Und das Gras die Kühe. Insbesondere ist es abscheulich, dass der Aaskäfer die Nahrungskette schließt (allerdings kann er sie auch eröffnen). Der Häftling wird jede Nacht vom schnellen Aufstieg und Fall der glänzenden Schnurrhaare träumen. Der Fall wird von unseren Anwälten geklärt. Ein anderer ist der Welt in dieser Zeit-Raum-Schleife abhanden gekommen. Und ein Dritter hat einen Hai aus der Nähe gesehen. Wir arbeiten daran.
    Ach was, denkt John, wir benutzen auch sonst Dinge, von deren Funktionsweise wir keinen Schimmer haben. Unsere vom Fortschritt begeisterten Vorfahren hingen noch der Illusion nach, zu wissen, was hinter den schicken Dingen der Neuzeit stand, was das alles war: Camera obscura; Mikroskop; Pinkertons Fleckentferner; Penizillin; Planetarium; Lokomotive. Ab einem gewissen Zeitpunkt im späten 20. Jahrhundert tun Dinge nicht mehr so, als wären sie fassbar.
    Im späten 20. Jahrhundert ist John dieser Vorrichtung schon einmal begegnet, ist ihm eingefallen, als sie von Mr. White instruiert wurden. Nein, das kann nicht sein (?). Er hat sie wahrscheinlich einem besoffenen sowjetischen Major abgekauft. Oder? Was war das eigentlich? War das das ?
    Ende der 1980er. In Leningrad. In einer schmuddeligen Bierkneipe, die einer der spätsowjetischen Desperados von dem sich Stück für Stück aufgebenden Staat übernommen und zu einem VIP-Salon umgetauft hatte. Das Ambiente erinnerte ihn an einen Satz aus »Lolita«, der ihn seinerzeit beinahe verletzt hatte, daran, wie Nabokov eine amerikanische Hotelbar beschreibt: »Der schmale Saal wurde von demselben trüben, unwahrscheinlich granatfarbenen Licht überschwemmt, das in Europa vor langer Zeit die Bordelle auszeichnete, hier aber einfach in einem anständigen Familienhotel ›Stimmung machte‹«. Für die Granatfarbe sorgten rotgläserne Glocken mit einem Rauminhalt von etwa drei bis fünf Litern, die an allen Glühbirnen als Lichtdeckel angebracht waren. »Ich kenne diese Glasglocke«, sagte Marina. »Ein Freund von mir ist Techniker im Fernsehturm, er hat mir so eine zum Geburtstag geschenkt, als Vase, dachte er, aber sie kann auf ihrem Halbkugelboden nicht stehen. Das sind Warnlichter von unserem Fernsehturm.« Das wunderte John nicht. Wenn man wollte, konnte man damals für eine Handvoll Dollar einen Panzer kaufen, eine Chemiefabrik, einen Elefanten aus dem Zoo. Der sowjetische Koloss war wie von einem Tropenfieber befallen, wie John das inzwischen formulieren konnte, allerdings ohne recht zu verstehen, was das war. Auch damals verstand

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