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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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im Schloss. Endlich.
    PAPIERENES MÄDCHEN / SINGENDER TOD
    Laura sah die Badezimmertür freundlich an. Ihr war ein bisschen peinlich, dass sie seine Frau gut kannte. Aber ihre seltsame, sporadische Beziehung zu Andreas hatte früher begonnen, als sie Marina kennengelernt hatte. Und sie hatte Marina kennengelernt, ohne von ihr und Andreas als Paar zu wissen. Im Grunde egal. Weil der, den sie liebte, nie da war, hat sie diese Beziehung wohl angefangen. Über die Beweggründe und Gefühle des hinter der Badezimmertür platschenden Andreas hatte sie damals nicht nachgedacht, denn sie war wohl davon ausgegangen, dass welche Beweggründe können Männer schon haben .

    Amigo de papel con un corazón de papel
    Ein papierener Freund mit papierenem Herzen,
    sang Laura.
    Sie beobachtete eine rote Katze, die vom Nachbarbalkon auf den ihren sprang, wie sie es oft machte (muss es sein?/nein, Frau Mayr, das stört mich überhaupt nicht, so ein hübsches Kätzlein). Sie nahm ein Buch von dem, den sie liebte, aus dem Regal, fuhr mit den Fingern über den Deckel, schlug das Buch auf. Eine Weile schaute sie unschlüssig auf die Katze, auf den Bildschirm und ins Buch, als könne sie sich zwischen Natur, Elektronen und Papier nicht entscheiden. Dann verschwand sie im Buch. Sie sprang von der einen Seite, wo sie eine unglückliche Frau, eine scheue Lyrikerin und eine überstrapazierte Studentin war, in die andere, wo sie zu einem papierenen Mädchen dessen geworden war, den sie liebte.
    PAPIERENES MÄDCHEN / SINGENDER TOD
    Natascha, meinte Fjodor zu sagen, mach das Licht an und die Musik aus. Nein, ich meine, Licht und Musik an. »Was? Was ist?« – Natascha hatte kein Wort verstanden. Sie konnte Fjodor nicht richtig sehen, nur einen dunklen Umriss, weil er vor dem Fenster stand und das ganze Licht eines Petersburger Sommers hinter ihm war. »Was?!«
    PAPIERENES MÄDCHEN / SINGENDER TOD
    Beim Abtrocknen freute sich Andreas, dass Laura endlich aufgehört hatte falsch zu singen. Er kam aus der Dusche und fragte sich, wo sie sich in diesem kleinen Raum verstecken mochte. Die Brötchen lagen auf dem Tisch, Kaffee war noch nicht gemacht. Er sah eine fleckige Katze auf dem Balkon, die ihn kurz anschaute, etwas miaute, was dem falsch gesungenen spanischen Lied ähnelte (amiaugo, amiaugo), und dann nach unten sprang. Oh Gott, Laura, sagte Professor Bach. Du hast Ideen, sagte er.
    PAPIERENES MÄDCHEN / SIN GEN DER TOD / NATASCHA
    Natascha packte Fjodor an der Schulter, drehte ihn mit dem Gesicht zum Licht und registrierte etwas verlangsamt, wie sich ihr ganzes Wesen gegen die neue Aufgabe sträubte, die ihr das Leben stellte. Als stünde sie wieder in einem Klassenzimmer vor der Tafel und betrachtete einen Tannenzweig, der unter dem Gewicht eines Schneelaibs nur deshalb nicht abgebrochen war, weil ein roter Gimpelfleck seine Leichtigkeit mit ihm teilte – sie betrachtete ihn am lähmenden Blick der Chemielehrerin vorbei durch die Fensterscheibe, an der der Schnee stellenweise klebte und stellenweise dunkelgraue Schneckenspuren hinterließ, weil dieser Schnee nur trügerisch schneeweiß war und die schwarzen Partikel der hiesigen Industrie- und Autoauspuffgase in sich trug. »Na gut, lassen wir das, Natascha Snegirjowa hatte eine schwere Kindheit , wer will die Formel an die Tafel schreiben?« Diese Aufgabe (die Formel, die Lehrerin, das Geheimnis des schwerelosen Dompfaffen, das Grinsen der Mitschüler) wurde Natascha los, indem sie schweigend aus der Klasse ging und sich weigerte, wieder in die Schule zu gehen. Ihre Tante und deren Mann schimpften, sie sei undankbar, ihre Vettern und Cousinen sahen sie neidisch an, sie selbst weinte drei Tage lang.
    Dann begann sie in einem Kiosk zu jobben. Hier wurden, außer Zigaretten, Kondomen und Eis auch die Strickjacken verkauft, die in der hiesigen Fabrik produziert wurden. Der Betrieb der Fabrik lief störungsfrei, der Vertrieb aber wurde sofort nach der Selbstauflösung des Sowjetstaates eingestellt. Niemand mehr wurde verpflichtet, die Jacken abzunehmen. Für Nataschas Tante und Onkel, die in dieser Fabrik arbeiteten, bedeutete das, ihren Monatslohn in Strickjacken zu bekommen. Der Onkel fluchte und soff, die Tante brachte die Jacken nach Hause und modifizierte sie nach Mustern aus mit Mühe ergatterten Zeitschriften, »Burda« usw. Als Natascha klein war, waren es Glitter und Flitter, die an das graue Gestrick anzunähen und anzukleben waren. Goldener Staub, silberne Glaskügelchen, irisierende

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