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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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niemand, was das war. Der Gang der Geschichte eben. Ich weiß, dachte John plötzlich, ich weiß, was das war. Das war ein Neustart. Das geschwächte System brauchte Erneuerung. Es war eine geniale Selbsterhaltungsaktion, die von außen wie Selbstauflösung aussah und für die Insassen wie die Befreiung von dem System. Reset. Das wäre ein gutes Thema für Davis’ Doktorarbeit. Nicht vergessen.
    Aber damals feierte die ganze Welt den Sieg der USA im Kalten Krieg, die Russen eingeschlossen.
    In der granatfarbenen Kneipe traf er den besoffenen Major, der die Augen einer Maus in der Falle hatte. Je mehr der Major trank, desto deutlicher sprach er.
    »Woher hätte ich das wissen können, sag es mir!«, sagte der Major.
    Ein Gläschen Wodka kam auf seinen Spatzenbeinchen zu des Majors rechter Hand gehüpft und quietschte zustimmend.
    Er holte aus seiner Kartentasche eine zusammengefaltete Decke, die ein gediegenes Picknick-Plaid hätte sein können, wäre sie nicht etwas zu saftig grün-orange gestreift gewesen.
    »Scheiße!«, sagte der Major.
    Das Gläschen torkelte auf seinen Spatzenbeinchen hin und her und schaute schräg nach oben zu einer Karaffe.
    »Ich muss gleich zurück, verstehst du, sonst: Schluss! Aus!«, sagte der Major.
    Das Gläschen rutschte von der Theke. Auf dem steinernen Boden wurden seine Splitter zu Granatkörnern.
    »Und wie? Wie kann ich am Montag zurück in Wladiwostok sein?«, sagte der Major.
    Ein neues Gläschen kam auf Spatzenbeinchen angehüpft, wusste aber auch nicht, wie das dem Major gelingen sollte. Oder doch? Der Major trank seinen Wodka aus, und durch sein blasses, verschwitztes, rot beleuchtetes Gesicht zuckte plötzlich ein rettender Gedanke:
    »Kumpel, ich brauche Geld! Für den Flug. Ich schick es dir morgen zurück, nimm meine Uhr, schau, eine Offiziersuhr, mit Stern«, sagte der Major.
    »Wie bist du hierher gekommen?«, fragte John vorsichtig und bestellte noch eine Karaffe Wodka.
    »Na eben!«, sagte der Major. »Ich hab hier gedrückt, siehst du, siehst du hier den Knopf, siehst du? Diese bescheuerte Decke kann man zuknöpfen, siehst du? Und das ging. Frag mich nicht, was ging. Ich kam einfach hierher. Bin hier gelandet. Und jetzt geht das nicht!«, er drückte und drückte den Knopf, vergeblich.
    Zwei Gläschen Wodka nacheinander.
    Er ist verrückt, dachte John und fragte: »Wo haben Sie das Ding her, Genosse Major?«
    »Na! Bei uns! Im Labor!«, sagte der Major, der offensichtlich ein Militärwissenschaftler war, und bestellte sich ein Glas Bier. »Ich dachte, das wäre eine hübsche Decke für meinen Welpen, deutscher Schäferhund, noch ganz klein.«
    Marina und Fjodor, die der Unterhaltung mit dem Major zunächst zugehört hatten, standen nun vor einem Spielautomaten und versuchten, den Einarmigen Banditen , eine der Sensationen der »Perestrojka«, wie diese hinterlistige Scheinauflösung, dieser Reset des Systems hieß, zu überlisten.
    »Genosse Major«, sagte John mit einer Stimme, die staatliche Härte und freundschaftliche Milde vereinte, »das ist ein streng geheimes Objekt. Niemand darf wissen, dass Sie es getan haben. Ich bin eigens aus Japan hierher geflogen, um Sie zurück nach Wladiwostok zu bringen. Das Objekt geben Sie mir gleich. Es wird bei uns auf Schäden untersucht. Leider wurde das Fehlen des Objektes schon gemeldet. Aber unsere Organisation wird Sie decken. Bewahren Sie Schweigen, das ist Ihre einzige Chance.«
    Nachdem im Flughafen des Majors üppiger Schnurrbart zum letzten Mal dankbar nach oben und nach unten gezuckt war, eilte John zum wartenden Taxi, in der Hoffnung, dass Marina und Fjodor seine Abwesenheit nicht bemerkt hatten. Sie standen in der Tat noch immer vor dem blinzelnden und trillernden Automaten.
    Als John das »Ding« im Studentenwohnheim ausbreitete, war ihm klar, dass er es nirgends abgeben konnte. Welcher Abenteuerlust bist du gefolgt?, fragte er sich. Wer hat dich gebeten, militärische Dinge zu kaufen? Deine Aufgabe war lediglich, zu beobachten, was von selbst da ist, und ab und zu darüber zu berichten. Was dachtest du überhaupt?, sagte er sich wieder und wieder. Um sich zu beruhigen, versuchte er zu meditieren, setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und beobachtete seine Gedanken, die nicht aufhören wollten:
    Was sollte er bitteschön sagen, fragten ihn seine Gedanken. Dass er einem Major eine gebrauchte grün-orange gestreifte Decke abgekauft hatte? Für eine Flugkarte nach Wladiwostok? Sie werden ihn für einen

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