Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
Vom Netzwerk:
Kofferraum verschwindet und anstelle des Kofferraums eine Auspuffwolke bleibt.
    Die übliche erste Ferienwoche bei Anita und Robert begann gestern. Das hieß: tagsüber herumhängen, am Abend Bier mit Robert trinken, morgens die Wespen beobachten, die durch die offene Tür aus dem Garten zufliegen und am Frühstück teilhaben wollen, Anita sagen hören: »Scheißviecher! Passt auf!« Die Holunderblüten riechen nach Sperma, Anitas Parfum riecht nach Kindheit.
    »Da hatte ich keine Zeit für«, sagte Anita.
    »Na, wenn man immer am Telefon hängt«, sagte Robert.
    »Ich hänge nicht am Telefon«, sagte Anita.
    »Und mit wem hast du gestern den ganzen Nachmittag telefoniert?«, sagte Robert.
    »Na mit dir«, sagte Anita.
    »Und warum war es besetzt?«, sagte Robert.
    »Ich habe sonst nicht telefoniert«, sagte Anita.
    »Und mit wem hast du gesprochen?«, sagte Robert.
    »Mit dir, sage ich doch«, sagte Anita.
    »Nein, warum bin ich nicht durchgekommen?«, sagte Robert.
    »Ich habe nur mit dir gesprochen«, sagte Anita.
    »Bring deinen grünen Anzug zur Reinigung«, sagte Anita.
    »Du hast heute deine Tochter zu Mittag eingeladen, vergiss es nicht, und geht nicht in die ›Blume‹, sie lassen einen immer lange warten, geht ins ›La Mama‹ oder so«, sagte Anita.
    »Nimm einen Regenschirm mit, sie haben gesagt, es wird heute regnen«, sagte Anita.
    »Die Gartentür quietscht, sag Rami, er soll sie ölen«, sagte Anita.
    Robert trank den letzten Schluck Kaffee, nahm das Paket mit dem grünen Anzug, griff einen Regenschirm und ging.
    »Vergiss deinen Schnauzbart nicht«, sagte Moritz sehr leise.
    Anita nahm das Telefon, wählte und ging nach oben. Je weiter sie sich entfernte, desto klangvoller war ihr Lachen.
    Ein Austauschschüler aus Amerika, der vorhatte, creative writing zu studieren, hielt es für schick, mit der Hand auf Papier zu schreiben. Moritz hatte sich von dem knochigen Amerikaner mit kleinem blauen Hut auf einer unscharfen Menge eng geringelten Haars und mit verschiedengroßen Moleskine-Heftchen in der Hängetasche beeindrucken lassen: Obwohl ihm sein Vater ein iPad zum Geburtstag geschenkt hatte und ihn seitdem jedesmal fragte, ob ihm das Ding gefalle, nahm er sein papierenes Notizbuch und schrieb sehr langsam, um die Notizen später entziffern zu können:
    HÄTTE ADAM EVA GELIEBT, WÄRE NICHTS PASSIERT
    Hätte Adam Eva geliebt, wäre nichts passiert. Aber Adam liebte Eva nicht. Sie war eine ihm vom Herrn gegebene Frau. So eine Frau, die alles mit einem teilt, die das Leben managt, sich kümmert. Eine Frau, die sagt: »Lass endlich mal dein Rad reparieren!« Man nimmt dann das Rad und bringt es in die Werkstatt. Oder sie sagt: »Du, nächste Woche hat deine Cousine Anke Geburtstag. Wir müssen ihr einen Blumenstrauß schicken. Oder nein, eine Postkarte reicht, sie hat dir ja letztes Jahr auch nichts geschenkt. Schicken wir ihr eine Postkarte.« Man nickt, und die Sache ist erledigt.
    Hätte Adam Eva geliebt, hätte er anders reagiert, als sie ihm sagte: »Schau, eine Frucht. Schmeckt auch. Koste mal, hat mir ein Kerl von nebenan gegeben.« Was tat Adam? Er kostete, klar, warum nicht. Er war nicht wählerisch und aß alles, was sie ihm auftischte.
    Hätte Adam Eva geliebt, hätte er sich gefragt: »Von was für einem von nebenan bekommt meine Frau Geschenke?«
    »Eva«, hätte er gesagt, »bring das Ding sofort zurück und sprich nie wieder mit dem Typen von nebenan.« »Mensch«, hätte Eva gesagt, »er ist so ein Netter, ein Engel von einem Wurm!« »WURM?!«, hätte Adam gesagt. Und er hätte den Feind erkannt und erschlagen.
    »Wer schreiben will, muss lesen«, hatte der Leiter einer Schülerschreibwerkstatt gesagt, »wer zum Beispiel die Bibel nicht gelesen hat, hat vieles verpasst, wer Fabulieren lernen will, kann es von der Bibel lernen«, und Moritz dachte damals, er habe zu wenig im Religionsunterricht mitbekommen, und begann das Buch zu lesen. Er las Genesis und Exodus und blieb in Levitikus stecken, Numeri waren nicht spannender, auch Deuteronomium nicht. Er las Kohelet und Hohes Lied und ließ es damit gut sein.
    Moritz schlug sein Notizbuch zu und radelte in die Stadt, Eis essen. Nicht weit vom Fahrradständer ragte aus dem Katzenkopfpflaster der glatte schwarze Stein, dessen Inschrift er genauso gut kannte wie die Geschichte der Mumienfreunde: Es habe an dieser Stelle eine Synagoge gestanden, die es seit dem 9. November 1938 nicht mehr gebe, wobei die Beziehung der jüdischen und

Weitere Kostenlose Bücher