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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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nichtjüdischen Stadtbürger ansonsten vorzüglich gewesen sei. Ich werde sagen: »Hi, was soll ich heute nehmen?«, nein, ich werde sagen: »Hi, wie heißt du?« Nein, auch nicht, dachte Moritz.
    3.
    Heute war Anita früher weg als Robert. Enger Rock bis zur Kniemitte, enges kurzes Jackett, Stöckelschuhe, schwarze Strümpfe, das heute rote Haar hochgesteckt: Dienstag ist Anitas Bürotag. Ihr Chef hat fünf Sekretärinnen, eine für jeden Wochentag. Er wolle kein erschöpftes Arbeitsvieh sehen, sondern eine zufriedene, gebildete Frau, die aus Langeweile einen Tag in der Woche arbeitet, die ansonsten erwachsene Kinder und einen wohlhabenden Mann hat, dem sie zeigen will, dass sie Wichtigeres zu tun hat als ihm das Frühstücksbrötchen zu schmieren (so ungefähr hat Moritz’ Mutter das dargestellt). Sie ging, sagte nur noch, dass es zum Frühstück keine Gurken und Tomaten gebe, weil man nun kein rohes Gemüse essen dürfe, bis auf weiteres, so sei die Meldung des Robert-Koch-Instituts gewesen.
    »Dr. Koch hat befohlen, alles zu kochen. Dr. Händewasch hat befohlen, vor dem Essen Hände zu waschen«, sagte Moritz.
    »Die Gartentür quietscht, sag Rami, dass er sie ölt. Oder hast du schon?«, sagte Anita noch zu Robert.
    Der Duft ihres Parfums mischte sich mit den Holunderblüten aus dem Garten.
    Die Montagssekretärin hatte BWL studiert und ordnete die Papiere in diesem Sinne. Anita konnte Englisch, Spanisch und Französisch und war für Telefonate und Korrespondenz mit dem Ausland zuständig. Die vom Mittwoch war Altphilologin und verfasste eloquente Reden mit angeberischen Zitaten. Von der Donnerstagsdame wusste Moritz nicht mehr, was sie konnte. Die vom Freitag war eine Sportlerin und ihre Kompetenz war das Fitnessprogramm fürs Wochenende. Ein Arbeitsvieh gab es allerdings auch, das all das beherrschte plus jeden Tag den alltäglichen Kram erledigte. Sie hasste die anderen fünf und war in den Chef verliebt.
    Robert tat seine Zeitung in den Papierkorb und las lächelnd die SMS, von denen er beim Frühstück gesagt hatte, sie seien von seinem Mobilfunkanbieter. Dann trank er den letzten Schluck Kaffee und sagte, immer noch woanders hin lächelnd: »Er spinnt, Anitas Chef. Wir waren auf einer Betriebsfeier, keine Tischordnung, aber nach jedem Gang stehen alle auf und tauschen die Plätze: über Kreuz, die einen im Uhrzeigersinn, die anderen umgekehrt. Damit alle mit allen in Kontakt kommen. Ok jetzt, ich muss los. Was machst du heute? Wenn du noch da bist, sag Rami von der Gartentür, dass sie quietscht«, sagte Robert und ging, an den Neffen seiner Frau mit jenem solidarischen Mitgefühl denkend, das erwachsene Männer für männliche Heranwachsende aufbringen.
    Ich werde sagen: »Hi…«, dachte Moritz und stockte. Er sah die von Robert offen gelassene Gartentür und begriff, dass sie ihm den Weg versperrte. Würde er jetzt gehen, ohne Rami Bescheid zu geben, wäre ihm den ganzen Tag mulmig zumute. »Unrast und Unruh – und raus bist du! Nein: Ohne Rast und ohne Ruh – und raus bist du!«, murmelte Moritz. Du Idiot, sagte er sich, niemand erwartet, dass du wartest, bis Rami mit seinem Rasenmäher kommt, niemanden interessiert die blöde Tür wirklich, außer dir.
    Na gut. Vor hundertfünfunddreißig Jahren haben sich die Bewohner dieser Stadt gesagt: »Es ist eine Schande, dass wir in der ganzen Gegend (und wir sind nicht die Ärmsten!) keine altägyptische Mumie haben.« Moritz nimmt sein iPhone (Stiefvaters Geschenk zum Geburtstag) und googelt, was sie damals alles anhatten: die Damen mit der ab der hohen Brust streng nach unten fallenden Körperlinie vorne und mit dem abstehenden Tournüre-Hintern, sodass sie im Stehen Stühlen ähnelten (der Hintern als Sitzfläche); die Herren in Gehrock und Melone. Die Stuhldamen und die Herren mit den Uhrkettenwasserfällchen an den Westentaschen (oder waren das Monokelketten?) gründeten also einen Verein, dessen Zweck das Sammeln der Mittel für den Erwerb einer Mumie war. Auch die aufgeklärten und emanzipierten Juden der Stadt unterstützten diese Idee mit reichlich Geld und Begeisterung. Passen sie in diese Geschichte? Gut, warum nicht, dachte Moritz, alle Menschen wurden Brüder.
    Schade, dachte er außerdem, dass diese Geschichte nicht zur Zeit von E.T.A. Hoffmann passierte, was der alles daraus hätte machen können, halt, das wäre doch was für den nächsten Kurzdramenwettbewerb, dachte Moritz, und schrieb:
    Handelnde Personen:
    Mumie: ein Mädchen,

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